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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Gesicht bekam; sie war von zwei Seiten belagert: hinten von unserer Familie, vorne von Frau Estermann mit ihren beiden Töchtern. Ich weiß bis heute nicht, wie die kränkelnde und leidende Frau dieses Leben überhaupt ertragen konnte.
    Jedenfalls hörte ich jeden Morgen, Tür an Tür auf der einen Seite mit meiner schlafenden Familie und auf der anderen Seite mit der den ganzen Tag in ihrem dunklen Zimmer rumorenden Frau von Förster, um 6 Uhr BFN, British Forces Network, weil man in Bernburg »den AFN«, American Forces Network, nicht hören konnte. Auch »den BFN« konnte man kaum hören, eher beim Hören erahnen, weil der Sender oft verschwand (ich wusste, dass das Fading heißt) oder die Musik in irgendwelchem Rauschen unterging oder sich gar der Mitteldeutsche Rundfunk Leipzig darüberlegte, meist mit Walzern von Johann Strauß, die ich damals hasste und inzwischen liebe.
    Der BFN begann seine Sendungen jeden Morgen mit einer gesungenen Jazz-Nummer, die »I'm Beginning to See the Light« hieß. Ich hörte das Lied, das bald verschwamm, bald verrauschte, bald kurzzeitig von einer Nachrichtensprecherstimme überlagert wurde, mit sehnsuchtsvoller Inbrunst. Das heißt, ich erriet es mehr, als ich es hörte. Und jedes Mal und jeden Morgen, wenn ich »I'm Beginning to See the Light« hörte, wurde meine Sehnsucht nach dem anderen Leben, fern von Kommunismus und Stalinismus, größer.
    Und als würden die Herrschenden das ahnen oder gar befürchten, las ich eines Tages in der Zeitung (es muss die »Tägliche Rundschau« gewesen sein), dass sowjetische Wissenschaftler herausgefunden hätten, dass der Jazz nicht in New Orleans oder New York oder Saint Louis »erfunden« worden sei, sondern – in Odessa. Ich grinste, als ich das las, nur überheblich und in ohnmächtiger Genugtuung des Besserwissenden. Erfunden! Jazz und erfunden! Jazz ist entstanden, nicht erfunden worden. Damals wollten die Russen alles erfunden haben, um ihre offenkundige Rückständigkeit vergessen zu machen. Und der Rias, den wir damals schon hörten – auch er war über unseren Volksempfänger nur unvollkommen zu empfangen –, machte sich mit seinem Kabarett »Die Insulaner« (mit dem unvergesslichen Texter Günter Neumann) über die Sucht der Sowjetunion lustig, sich sämtliche Erfindungen unter den Nagel zu reißen, die bisher Engländer, Franzosen, Deutsche, Italiener oder gar Amerikaner (Franklin und Edison) gemacht haben sollten.
    Der Jazz aus Odessa! Wir trauten den Russen bestenfalls zu, dass sie die Kochkiste erfunden hätten, jenes Wundermöbel der energiearmen Jahre, bei dem man den Topf mit dem angekochten Gericht schnell mit zwei Topflappen ergriff, in eine mit Werg und Tuchfetzen ausgestopfte Kiste steckte und einen mit Stoff isolierten Deckel darauf setzte. Wir hatten übrigens nicht einmal eine Kochkiste, meine Mutter benutzte das Federbett, in dem wir in der Nacht schliefen, dort garte am Tag die Bohnensuppe – wenn es sie gab.
    Tagsüber war übrigens der BFN und mit ihm Swing und Jazz, die Boogie Woogies und der Blues, überhaupt nicht zu hören. Der Mitteldeutsche Rundfunk Leipzig hatte die Klanghoheit über das Radio gewonnen und er war besser zu hören als morgens der überlagerte BFN. Ich habe viel klassische Musik gehört, am Nachmittag und am Abend, vor allem Symphonien von Brahms, Beethoven und Tschaikowsky. Und obwohl der Sound, der aus dem kleinen knatternden Gehäuse kam (die Membrane des Lautsprechers schepperte oft hinter dem zermürbten Stoff, der gegen das Kunststoffgitter vibrierte – wie ein Raubtier, das aus dem Käfig auszubrechen suchte), besser war als der Empfang meiner geliebten Morgensendung, so war er doch nicht gut: flach, eindimensional, verzerrt. Und doch habe ich damals vieles aus dem klassischen Repertoire lieben gelernt, und obwohl ich sicher nicht jeden Ton hörte, hörte ich alles. Seither weiß ich, dass die eigene Phantasie das ergänzt, was sie nicht vollkommen hört. Auch dann, wenn sie es nie zuvor vollkommen gehört hat? Ich behaupte gegen alle Vernunft: Auch dann.
    Und auch dem Jazz, dem ich über alle Störungen und über allen Schwund hinweg mit dem Ohr am Lautsprecher lauschte, tat das keinen Abbruch. Vielleicht sog ich aus der Unvollkommenheit der Wiedergabe die Sehnsucht nach einem Reich, in dem ich die Musik vollkommen hören konnte.
    Als ich während meines Studiums in Tübingen Louis Armstrong hörte und als ich im Tübinger Freibad auf mondüberglänzter Terrasse zu Glenn

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