Auf der Flucht
in ihren Werken zu zweiundzwanzig Jahren Haft verurteilen ließ?
Klar, dass, um den Stalinismus in Deutschland zu errichten, die Bemühungen, die Grenze dichtzumachen, immer intensiver wurden. Niemand lässt gerne seinen Staat inspizieren, wenn er den kommunistischen Staatsstreich vollzieht, niemand hat es gern, wenn Reisende erzählen, wie es in seinem Staate zugeht, wenn es so zugeht, wie es zugeht.
Der Stalinismus hatte zwar keine wahnhafte Rassenlehre entwickelt, für die Millionen in Todesfabriken sterben mussten. Aber wenn Stalins Kulakenmorde und Gulagmorde später in Zeiten der Koexistenz als »Fehler des Personenkults« abgetan wurden, erschien mir das als der pure Hohn. Seinen Untertanen vermittelte er ein geschlossenes Weltbild – zum Beispiel eine stalinistische Biologie. Natürlich hatte sie den westlichen Biologien überlegen zu sein – wie alles, was sich Stalin ausdachte oder anderen sich für ihn auszudenken befahl.
Iwan Wladimirowitsch Mitschurin und Trofim Denissowitsch Lyssenko hießen Stalins Vorzeige-Biologen, mit denen wir jahrelang vor dem Abitur in dem Kernfach Biologie gefüttert wurden, weil sie auf dem so entscheidenden Sektor der Biologie die Überlegenheit des sozialistischen Weltbildes theoretisch, und auch praktisch, im Kampf gegen den Hunger, beweisen sollten. Der eine, Mitschurin, der 1935 in einer Stadt starb, die zu seinen Ehren Mitschurinsk hieß, züchtete mehr als 300 neue Obstsorten (so wie Stalin den neuen Menschen züchten wollte). Seine Methode: vegetative Hybridisierung, womit die Ostbaumgrenze für die Sowjetunion erheblich nach dem Norden verschoben werden konnte. Er bekam dafür den Leninorden und den Rotbannerorden. Wir bekamen dennoch kein Obst, weder Süd- noch Nordfrüchte. Und dort, wo es Obst gab, so belehrte uns die Schule, Bananen und Ananas, da herrschte mit kolonialer Ausbeutung die American Fruit Company, ein besonders schlimmes Exempel des United-States-Imperialismus.
Lyssenko, Agronom und Agrarbiologe, Stalins Lieblings-Wissenschaftler und ein Scharlatan, entwickelte unter großem Tamtam eine eigene sowjetische Biologie und Genetik und erhielt gleich sechsmal unter Stalins Beifall den Leninorden. Wir mussten seine Methode der Jarowisation (die Sommergetreide durch Kältebehandlung von angekeimten Samen angeblich winterfest machte) wie einen Katechismus lernen. Es war ein für die Sowjetunion teurer Katechismus, der zu Hungersnöten führte, wo seine Methode zwangseingeführt wurde. Seine Lehre von der Entstehung der Arten war eine Säule von Stalins wissenschaftlich begründetem Überlegenheitsgefühl.
Wir hatten das 1951/52 wie ein kommunistisches Evangelium zu lernen. Auch die Natur beweise in einer riesigen einzigen Analogie die Richtigkeit der marxistisch-leninistisch-stalinistischen Entwicklungstheorie. Brecht schrieb über diesen Unfug, der die Mendelschen Gesetze außer Kraft setzen sollte, eine stalinistische Peinlichkeit unter dem Titel »Die Erziehung der Hirse«. Im DDR-Lexikon, das Lyssenko, dem »Kopernikus der Biologie« unter Stalin, nach der Entstalinisierung noch ganze sechzehn Zeilen einräumt, heißt es schon distanzierend: »Seine Schlussfolgerungen wurden von den sowjetischen Biologen nicht anerkannt.« 1974 kommt Lyssenko in Band neun des Großen DDR-Lexikons (»Meyers neues Lexikon«) nicht mehr vor.
Unser Lehrer, der uns diesen Unfug einzubläuen hatte, den er natürlich begeistert glaubte, war über den volksdemokratischen Bildungsweg in unsere Schule gekommen. Er hieß Kaempfe, war ein liebenswürdig-schusseliger Mensch, der uns gut behandelte und der eine schwere Zunge hatte, die über alles mit sächsischer Mühsal stolperte. Da er uns gefiel – er gab mir sofort eine Eins, wenn ich auch nur zwei Stunden aufhörte, seinen Unterricht durch Albernheiten zu stören –, beteten wir brav (ich weiß nicht mehr, ob mit oder ohne Überzeugung) seine Mitschurin- und Lyssenko-Sprüche nach und erzählten vom »jarowisierten Sommerweizen« – so müssen früher Scholastiker von der Dreieinigkeit rabulistisch gefaselt haben. Wahrscheinlich glaubten wir kein Wort, einfach weil es uns nicht interessierte. Schüler-Obstruktion nährt sich aus Desinteresse. Stattdessen notierte ich mir die im schönsten Sächsisch vorgetragenen Stilblüten des Lehrers in meine Hefte. Etwa über den in der Entwicklung (Darwin) so wichtigen Lanzettfisch: »Das Lanzettfischschen heißt Lanzettfischschen, weil es eine lanzettfischschenförmlische Form
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