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Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
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Millers »Moonlight Serenade« tanzte mit dem wunderbar durch eine Klarinette aufgehellten Saxophonsatz, da war ich am Ziel meiner Wünsche. Damals glaubte ich zwar, in ein anderes Mädchen verliebt zu sein als in die, mit der ich tanzte. Aber in der Erinnerung haben nie wieder Instrumente über mir so silbrig geflimmert wie bei Glenn Millers »Moonlight Serenade«. Ich war am Ziel, obwohl ich es ganz und gar nicht wusste. Näher am Ziel als später je wieder.
     
    Ich habe Glück gehabt, großes Glück, denn eigentlich habe ich den Stalinismus nur als Farce erlebt. Ich habe Glück gehabt, man hat mich weder gefoltert noch verhört, noch in die Jauche und Scheiße getaucht wie Walter Kempowski, den man quälte, bis er seine Mutter verriet. Ich hatte dieses Glück, weil mein Vater in Bernburg in einer Holzfirma arbeitete und sich stetig – er war fleißig und liebte sein Handwerk, die Tischlerei – nach oben arbeitete, bis er in seinem Betrieb zur »technischen Intelligenz« gehörte, der in der DDR »alle Türen offen« standen. Alle Türen offen – das schien zwar erbärmlich wenig, aber es war weit mehr als das, was den kleinen Kaufleuten zugestanden wurde, die man bis zum Ruin kujonierte. Oder den Ärzten, deren Kinder man am Studium hinderte. Nein, eine Kulturrevolution hat es in der DDR nicht gegeben, auch später nicht, als Mao und die Roten Khmer sie veranstalteten, man hat die Brillenträger nicht erschlagen, man musste es auch nicht, sie liefen freiwillig, solange sie konnten, in den Westen weg.
    Meine Freunde, also meine Klassenkameraden und ich, haben von dem, was sich um uns herum entwickelte, nicht viel kapiert. Wenn wir konnten, saßen wir um »Hosbert« (wie wir ihn, seiner Mutter folgend, riefen, denn eigentlich hieß er Horst Hubert) Schroer zusammen, er, Sohn eines Musikers einer Tanzkapelle, am Klavier. Stundenlang, wirklich stundenlang spielte er Boogie Woogie oder improvisierte Blues-Harmonien, wozu wir anderen zum Steinerweichen und bis zur Stupidität sangen: »Blues, why did you go from me! Blues, why did you go from me? Parampa pada! Why did you go from me.« Wir improvisierten mit selbstvergessener Inbrunst.
    Unsere Vorliebe für Rhythm 'n' Blues, für eine Musik in Synkopen, für Saxophon- oder Trompetensoli, für die voluminös krächzenden oder orgelnden Stimmen von Louis Armstrong oder Ella Fitzgerald, hatten wir ganz für uns – unsere Eltern hatten dafür kein Ohr, sie zuckten die Achseln über unsere jugendlichen Verrücktheiten.
    In einer Stadt wie Bernburg gab es natürlich keinen Jazzkeller, nur in einem kleinen Lokal in einem kleinen Hotel einen Tanzraum, in dem jeden Freitag und Samstag eine Tanz-Combo spielte, Bass, Gitarre, Akkordeon, dazu sang der Akkordeon-Spieler oder es sangen alle drei, das ging nach dem Schema von Friedel Hensch und den Cypries und ich saß da jeden Freitag als Sechzehnjähriger allein vor einem Glas Brause oder Bier, hörte die Musik, sah den Tanzenden zu und träumte mich in eine Zukunft, die morgen, ja eigentlich noch heute beginnen musste und die so ging:
     
    Hallo, kleines Fräulein.
    Haben Sie heut Zeit?
    Mit mir auszugehen
    Nur zum Zeitvertreib?
    Wir gehen über Felder
    Streifen durch den Wald
    Kein Mensch wird uns sehen
    Weder jung noch alt.
    Wenn es dann schon dunkelt
    Stern auf Stern uns lacht
    Werde ich dich küssen
    Halt im Arm dich sacht
    Dann sind wir so selig
    Wie im Paradies
    Gisela, ich lieb dich.
    Du bist süß.
     
    Das war als Swing gespielt, das Akkordeon zog Improvisationsbögen, und nach dem Refrain jazzten alle: »Bab, bab, bab, baberabebab, bab, bab, bab, baberabebabab.« Und wiederholten:
     
    Dann sind wir so selig
    Wie im Paradies
    Gisela, ich lieb dich
    Du bist süß.
    Ba, be, be, ba, be, du! Yeah!
     
    Ich war mit keinem Freund, keiner Freundin in diesem kleinen Tanzlokal, ich habe nicht einmal getanzt, aber immer bis zum Schluss dagesessen, immer allein an der Ecke eines Tisches, bis die Band aufhörte zu spielen. In meiner Phantasie tanzte ich, während ich den Paaren zusah, wahrscheinlich am Broadway. Mindestens! Wahrscheinlich im siebten Himmel. Der nicht mehr voller Geigen hing. Sondern voller Synkopen. Und swingte! Ich konnte fast alle Schlager auswendig, hätte fast alle mitsingen können, ja ich hätte gern vor einer Band gestanden und die Lieder mitgesungen. Stattdessen machte ich nur leise »bab, bab, bab, babarebabab«. Und jedes »Bababa-baberababad« war ein unbewusster Aufstand gegen die Losungen, von denen

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