Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Flucht

Auf der Flucht

Titel: Auf der Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hellmuth Karasek
Vom Netzwerk:
hat.« Feuerzangenbowlen-Penne im Stalinismus. Stellen wir uns eine Dampfmaschine vor! Das Dumme war nur: Einige Mitschüler, die nur auf blöde Scherze aus waren, haben im Stalinismus (der humorlos wie jede Diktatur war) kindische Schülerstreiche mit dem Ende ihrer Schulkarriere, mit Relegation, ja mit Gefängnis bezahlt. Ihnen widerfuhr, was dem Sommerweizen passierte. Pech für sie!
    Dabei war es lächerlich, wenn man bei den Mai-Paraden die Repräsentanten der alles umwälzenden Revolution sah, lächerlich und erschreckend: Angehörige eines geriatrischen-sklerotischen Gruselkabinetts mit maskenhaft erstarrten Greisengesichtern in schlecht sitzenden, geschmacklosen Anzügen, mit geschmacklos überladenem Ordensklimbim auf der Brust – das sollte das Symbol der Zukunft der Menschheit sein? Nur – wer darüber lachte, riskierte seine Existenz.
    Ich erinnere mich noch an die Angst, die meine Freunde und ich damals hatten. Wir wollten »durchkommen«, nur »durchkommen«. Bloß keinen Fehler machen! Wir wollten eine Zeit überleben. Bloß nicht zu viel trinken und dann zu randalieren anfangen! Sich bloß nicht provozieren lassen, damit einem in einer Versammlung nicht der Kragen platzt und man ruft: »Ich kann nicht mehr.«
    Um sich seinen eigenen Lebensweg wie aus der Distanz vor Augen zu halten, bemüht man Bilder, Gleichnisse, Allegorien; sie sind grob, vereinfachend und deshalb darauf ausgerichtet, einleuchtend zu sein. Sie sind so, wie sich Sportler, um sich zu Leistungen anzuspornen, Nationalfarben, Flaggen und Hymnen vor Augen halten. Ihr Ziel ist eine gewisse Emblematik, an der man sich zu orientieren sucht, nachdem man sie selbst erfunden oder zumindest selbst gewählt hat. Je älter ich werde, desto unabweisbarer drängt sich das einfache Bild eines Sturzes auf: Ein Mann fällt vom Dach eines Wolkenkratzers und stürzt im freien, ständig beschleunigten Fall auf die Erde zu. Und während er stürzt und eigentlich wissen müsste, dass das Ende nur der katastrophale Aufprall sein kann, überkommt ihn während des Falls eine lebensrettende Euphorie; er passiert Stockwerk um Stockwerk und denkt: Bisher ist ja alles noch gut gegangen.
    Als junger Mensch hat man ein anderes, ein weniger zynisches Bild vor Augen. Man stellt sich das Leben als eine Pfeilbahn vor, man wird mit einer Sehne vom Bogen abgeschossen und fliegt mit unwiderstehlicher Flugkraft dahin, die Lüfte erzittern, und man hofft, dass die Spannkraft noch lange anhalten möchte. Vielleicht sollte man eher einen Langstreckenläufer vor Augen haben, der am Ende der Strecke noch meint zulegen zu können, aus eigener letzter Kraft. Während das Bild vom losgeschossenen Pfeil ja in Wahrheit etwas ähnlich ohnmächtig Fatalistisches hat wie das des Mannes, der vom Hochhaus in die Tiefe stürzt.
    Als ich 1952 Abitur machte, schien ich mich am schnellsten und am besten auf ein Ziel im Lebensflug zuzubewegen. Ich hatte meinen Klassenkameraden und besten Freund, Oswald F., kurz vor dem Abitur in geheimem Wetteifer in der Flugbahn überholt, ich war Klassenbester und, wie sich mit dem Abitur herausstellte, Schulbester geworden: Als Flüchtling, der sonst nichts hatte, und als Angehöriger einer total besiegten Nation konnte ich mir keine anderen Ziele vorstellen und setzen.
    Aber der Sieg war sozusagen vergiftet und verwandelte sich durch die Zeitumstände in eine Niederlage. Denn noch bevor das Abitur geschafft war, wusste ich schon, welche Siegestrophäen mir in Aussicht gestellt waren. Man hatte mir auf meine Bewerbung hin in Halle einen Studienplatz in Aussicht gestellt: allerdings nicht für Germanistik, wie ich es mir gewünscht hatte, sondern für Geschichte. In meiner damaligen Beschränktheit kam mir das wie eine herbe Einschränkung vor: Geschichte erschien mir als politisches Fach, das mich im Sinne der herrschenden kommunistischen Heilsgewissheit (die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, an deren eschatologischem Ende der Sieg der Arbeiterklasse stünde) nicht mit Fakten und historischen Daten, mit Zusammenhängen im Spiel von Macht und Zufall, von Siegen und Niederlagen der Vernunft versorgen würde, sondern mit propagandistischen Belegstücken und Klitterungen, die etwas beweisen sollten, was längst schon bewiesen war, von allem Anfang an.
    Was mich nachträglich nur wunderte, war, dass ich bei der Bewerbung offenbar geglaubt hatte, dass ich mit Germanistik besser gefahren wäre. Das war naiv. Und später, als ich in Tübingen

Weitere Kostenlose Bücher