Auf der Flucht
wirklich Geschichte und Germanistik studierte, da habe ich gelernt, dass die Germanistik sich von totalitären Regimen noch willfähriger in den Dienst der Ideologie schleifen lässt als die Historie, die sich wenigstens mit einigen unverrückbaren Daten wehrt. Aber vielleicht hatte ich mich ja in Halle nur noch spielerisch, nur noch pro forma beworben, für den Fall, dass alle Stricke reißen, das heißt, dass mir die Flucht in den Westen nicht gelingen sollte.
Aber mir hätte sich damals eine zweite, in den Augen der staatstragenden neuen Kräfte der DDR noch verlockendere Perspektive aufgetan – die mich allerdings in eine gewisse Panik versetzte. Der Schulrat ließ mich über den Klassenlehrer und den Schulleiter wissen, dass mir für den Fall eines gut bestandenen Abiturs ein Auslandsstipendium winke: Ich könnte dazu ausersehen sein, in Moskau, also im Herzen der Sowjetunion und im Zentrum des Sozialismus, zu studieren. Gewissermaßen zu Füßen von Väterchen Stalin, von dem ich durch speichelleckerische Gedichte wusste (»Im Kreml brennt noch Licht«), dass der Allwissende, Allmächtige sich keine Nachtruhe gönnte, damit er die Menschheit endgültig vom Joch des Kapitalismus befreien könnte. Mir erschien das wie der personifizierte Alb vom Großen Bruder, der mich bewachte und beobachtete, während ich unter seinem strengen Blick im roten Rom studierte. Wie auf der Napola bei den Nazis sollte ich mit etwas gesegnet werden, das ich partout nicht wollte, vor dem ich nur Widerwillen und Schrecken empfand: jetzt allerdings viel bewusster und nicht nur aus Bequemlichkeit und kindlichem Instinkt wie bei den Nazis.
Das Merkwürdige ist nur, dass ich mir diese Aussichten auf einen auserwählten Studienplatz in der Sowjetunion nicht etwa in der Schule (die schon nicht mehr Karlsgymnasium, sondern Karl-Marx-Oberschule hieß) durch sozialistischen Eifer und linientreue Meriten erworben habe, ja nicht einmal hätte erwerben können, wenn ich es denn je gewollt hätte. Denn die Schule war, mitten im Stalinismus, in weiten Teilen noch von gestern. In Deutsch schrieben wir Aufsätze über »Egmont« oder »Nathan den Weisen«, in Geschichte krähte der eine Geschichtslehrer, wenn von deutschen Kriegsverbrechen die Rede war, etwas von »Vae victis!« – »Wehe den Besiegten«, der andere erzählte stolz vom Ersten Weltkrieg, wie russische Kriegsgefangene an einen Eisenbahnwaggon geschrieben hätten: »Russische Eier – französischer Sekt – deutsche Hiebe, hei, wie das schmeckt!« Aus dem Rückblick erscheint mir das alles unfassbar: Es lag an der systemimmanenten Schlamperei, die mitten im totalitären System vorherrschte. Noch mehr aber daran, dass es noch keine neuen Lehrkräfte gab, die zu Kadern für das neue Bewusstsein geschult gewesen wären.
Dabei spielten wir in der Schule ein scheinbar zeitloses Spiel: Flegel in der Penne. Wir fläzten uns in unsere Bänke, schoben uns Zettel zu, schössen mit Papierkugeln, zerschnitzten die Bänke, füllten die Ritzen mit Tinte und wenn der Lehrer plötzlich seinen Rücken zur Tafel drehte, uns scharf und wie ein Dompteur anblickte und fragte »Wer war das?«, lehnten wir uns mit breitem Grinsen zurück oder setzten eine unschuldige Miene auf. Ich ging schon allein deshalb gerne in die Schule, weil man da so viel herumalbern konnte. Und noch lieber, weil es eine gemischte Schule war und ich mit Mädchen zusammenkam, die man hänseln und anhimmeln konnte. Ich war mehr fürs Anhimmeln und da ich dachte, man könnte meine Gedanken lesen und wüsste, mit welchen Wunschbildern ich gestern noch onaniert hätte, wurde ich oft rot dabei. Abgesehen von diesen Jungengeschichten, lebten wir in den beginnenden fünfziger Jahren in einer unaufgeräumten, ungelüfteten Zeit. Auch in der DDR war eine Prüderie erzeugt worden, die die Libertinage der vierziger Jahre krass zu deckeln und einzufangen suchte – nur war sie hier nicht mit dem Christentum bemäntelt und nicht der Religion untergeordnet, sondern der proletarischen Enge, die all das scheinbar Ausschweifende für bourgeoise Verderbtheit erachtete, die nur vom Klassenkampf, der Arbeitswelt und der Normerfüllung ablenkte.
Ich hatte das Glück, dass in unserer Vorderwohnung die Dramaturgin des Bernburger Stadttheaters wohnte, die Witwe eines Redakteurs, der im Krieg gefallen war, eine »kesse Berlinerin« mit scharfer Zunge und scharfer Nase, die über ihren leider behaarten und leider nicht enthaarten Beinen schicke
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