Auf der Flucht
Nylons trug und auf hochhackigen eleganten Schuhen über den Parkettfußboden klapperte. Sie hatte eine jüngere Freundin, die ihre Assistentin war, flauschige Pullover in Bonbonfarben trug und schrecklich vorstehende Zähne hatte, aber die Zähne waren schneeweiß, sie war blutjung, so dass man sich daran nicht störte, sondern sich wünschte, die Lippen zu küssen – ich jedenfalls wünschte mir das. Und so werde ich mit Dankbarkeit nicht vergessen, dass mir die beiden beim Rauchen (ich durfte als Sechzehnjähriger mitrauchen) die Mund-zu-Mund-Beatmung mit Zigarettenrauch beibrachten. Ich kam mir für Augenblicke wie ein Lebemann vor. Dazu hörten wir natürlich amerikanische Musik. Sonst aber gingen sie mit mir burschikos freundschaftlich um, die Dramaturgin nahm mich mit ins Theater und ich durfte sogar »den Professor« in »Emil und die Detektive« spielen. Für die Rolle musste ich eine Jacke tragen, hatte aber nur eine, deren Ärmel mir nur bis zu den Ellbogen gingen. Es sah grotesk aus, so grotesk, dass man hätte denken können, es gehöre zur Charakteristik der Figur und sei das Werk einer Kostümbildnerin. Damals aber gab es keine Kostümbildnerinnen, höchstens einen Fundus.
Im Theater sah ich zum Beispiel den »Othello«, den der Intendant, ein stattlicher Mime, ein Provinz-Quadflieg, selbst spielte, während sein Oberspielleiter, hager, spindeldürr, käsige Haut, Brille, schütteres rotes Haar, den Jago gab. Es gab zwei Desdemonen, eine dunkelhaarig und die andere blond, die sich alternierend vom Intendanten abwürgen ließen – für mich waren beide wunderschön und mein Freund Oswald und ich murmelten uns auf dem Nachhauseweg zu, dass die eine, die Dunkelhaarige, die Ehefrau des Intendanten war und die andere, die blonde, seine Geliebte. Die wiederum sei die Ehefrau des Oberspielleiters, während die dunkelhaarige Intendantenfrau seine Geliebte war – so einfach legten wir uns die Welt zurecht. Und so sehen Theaterwelten aus, wenn man sich in sie hineinsehnt.
Während ich im Theater mit großer Verliebtheit auf die hoch gewachsenen Ballettschülerinnen schaute und zärtliche Blicke zu ihren in Ballettschuhe gebundenen Füßen warf, gewöhnte ich mir das Erröten ab. Bis dahin hatte ich in der Schule die Flucht nach vorne angetreten: Immer wenn in der Klasse oder auf dem Schulhof ein Mädchen in meinen Blickkreis trat, von dem ich fürchtete, sie würde mich erröten machen, sagte ich laut: »So, es ist komisch, aber jetzt werde ich gleich rot!« Dann lachte ich, etwas krampfhaft, und wurde rot. Jedenfalls die ersten Male. Später immer weniger. Man kann die Wahrheit nur mit einer Scheinwahrheit besiegen, dachte ich. Später habe ich oft dann die Wahrheit gesagt, das heißt, ich bin mit ihr vorgeprescht, wenn sie für mich besonders unangenehm und beschämend schien. Dieser Mut zur Wahrheit hat mir über die Peinlichkeit hinweggeholfen. Später, bei Max Frischs »Biedermann und die Brandstifter«, habe ich das theoretische Futterzeug dazu bekommen: dass nämlich die beste Lüge die Wahrheit sei. Die nackte Wahrheit, die so unverschämt klingt, dass sie niemand glaubt.
Im Theater spielte man »Romeo und Julia« und »Die Dubarry« und »Maske in Blau« und »Der Raub der Sabinerinnen«. Keinen Brecht, keinen Hauptmann, keinen Sternheim, geschweige denn Wischnewskis »Optimistische Tragödie«. Hier, in diesem Striese-Betrieb, waren die Ritzen noch dicht gegen die Diktatur des Proletariats. Aber komisch ist es schon, dass Schule und Theater in der Zeit, da Stalins Byzantinismus seinen Höhepunkt erlebte, absolut anachronistisch waren: Die Schule spielte die »Feuerzangenbowle«, das Theater den »Raub der Sabinerinnen«. Jedenfalls war Striese der Theaterdirektor.
Es war vor allem vor den Schulfeiern, wenn alle Klassen sich als eine schnatternde Schar zur Aula begaben und dort mit einem erheblichen Lärmpegel weiterschnatterten, und das Fass jederzeit zum Überlaufen kommen konnte, dass der wie geschnitzt wirkende, vom Alterspuder der Milde notdürftig überstaubte Kopf Stalins mit seinem (auf mich) sardonisch wirkenden Georgier-Grinsen die Feierstunden mehr und mehr bestimmen sollte.
Von irgendeinem Moment an, ich denke, es war 1949/1950, war er der einzige Zweck und das einzige Ziel der Aula-Feiern, ob es sich um Schuljahresbeginn, Weihnachten oder Schuljahresende handelte. War zu Beginn der Feierstunde Ruhe eingekehrt, so spielte ein Schulorchester oder es sang der Schulchor (zu dem ich
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