Auf der Flucht
gehörte), das Schulorchester klang jämmerlich, wie Streichinstrumente klingen, die in die Hände von zwangsverpflichteten Dilettanten geraten sind, der Schulchor hörte sich (für mich) schön an, weil ich als Bariton, von seiner Kraft getragen, in sein Volumen eingebettet war: »Bald prangt, den Morgen zu verkünden … bald muss die Nacht, die düstre schwinden …!«
Dann sprach der Schulleiter, den wir noch immer »Direx« nannten. Die Schüler flüsterten und zischelten, bis die Lehrer böse blickten; das Orchester fiedelte wieder, der Chor sang.
»Klatscht nicht so viel«, sagte unser Klassenlehrer »Mope« Kersten, »sonst fangen die womöglich noch mal von vorne an!« Er war entweder ein Banause oder ein Musikfreund, jedenfalls als Naturwissenschaftler, als Physik- und Mathematiklehrer einer großen Nüchternheit verpflichtet, er leistete es sich nie, laut oder unbeherrscht zu werden, war streng gekämmt und trug den weißen Mantel des Physiklehrers auch als Uniform eines Naturwissenschaftlers, der von Geisteswissenschaftlern nicht viel hielt – »alles Schwafelei!«, sagte er in diesem Zusammenhang und für ihn fiel auf jeden Fall jedes politische Gerede, ob es sich um »Gesellschaftskunde« oder Aula-Reden handelte, unter die Kategorie der »Schwafelei«, über die er verächtlich die Lippen schürzte.
Mope Kerstens Temperament brach los, wenn er Motorrad fuhr und an seinem Motorrad herumbastelte, dann ließ der stille, beherrschte Mann dröhnend und mit aufheulendem Motor die Sau raus, ein Brillenmensch auf wilder Fahrt. Und eigentlich sah er auf seiner röhrenden Maschine (aber das wusste ich damals noch nicht) wie Woody Allen aus: ein Woody Allen als »Easy Rider«.
Ich erinnere mich daran, wie er uns in der Abiturklasse eines Tages die Relativitätstheorie vermittelte. Wir saßen zu siebzehnt im Physiksaal, Kersten stand vor einer Art Theke mit blitzenden Geräten, klein, weiß und steif mit schwarzer Brille und schwarzen, nass gekämmten Haaren und sagte, sinngemäß, dass die Relativitätstheorie sehr kompliziert und sehr schwer zu verstehen sei. »Vielleicht ein Dutzend Menschen auf der Welt verstehen sie.« Pause. »Ich werde sie Ihnen jetzt erklären!«
Ich habe diese Geschichte oft und gern als Beispiel von Pauker-Hybris und Lehrer-Überheblichkeit, ja von Borniertheit erzählt, aber von meiner Klasse sind von siebzehn Schülern drei Physik-Professoren geworden, einer Ordinarius für theoretische Physik an der Berliner FU, einer unterrichtete eine Zeit lang an japanischen Universitäten, einer wurde ein bekannter Arzt, Herzspezialist, ein anderer Oberstadtdirektor in Heidelberg, wo er unter anderem Müllabfuhr und Straßenbahnen erfolgreich verwaltete und reformierte, und noch ein weiterer ein bekannter Architekt, ein anderer ein hingebungsvoller Meeresbiologe.
Nur ich, ich war aus Kerstens Klasse zu den »Schwaflern« übergelaufen und noch heute ertappe ich mich manchmal dabei, wenn ich literarischen Diskussionen lausche, unserem erschreckend nüchternen Klassenlehrer Recht zu geben und beim Zuhören zu denken, das ist doch Schwafelei. Ich weiß dann, dass ich Recht und Unrecht zugleich habe.
In der Parallelklasse, die schöngeistig ausgerichtet war, neusprachlich, was vor allem Deutsch, Englisch und Russisch hieß, unterrichtete als Klassenlehrer Herr Kühlhorn, von uns zu Herr Kahlhirn vorballhornt, ein älterer, etwas wackliger Herr mit schmalem, schönem Kopf, der es verstanden hat, in mir die Liebe und Neugier zur Literatur zu wecken (auch zu Thomas Mann und Anna Seghers). Aus dieser Klasse von Kühlhorn, der seine Schüler nie politisch indoktrinierte – nichts lag ihm ferner –, sind nach dem Abitur zwei Drittel der Schüler in die kasernierte Volkspolizei als Freiwillige eingetreten: Sie machten Karriere in der DDR-Volksarmee. Dagegen sind aus meiner Klasse (dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig) von siebzehn Schülerinnen und Schülern elf unmittelbar nach der Reifeprüfung nach Westdeutschland geflohen. Seltsam! Sind »Schwafler« für militantes Denken, für Propaganda anfälliger? Oder bestimmen so genannte Alpha-Tiere in der Klasse das Gruppenverhalten.
Ich bin zusammen mit drei anderen Schülern nach Westberlin gegangen. Der eine war Klassensprecher, ich sein bester Freund und Konkurrent, der tonangebende Clown der Klasse, der Dritte war ein großartiger Mathematiker und guter Klavierspieler, mein Banknachbar. Und der Vierte ein Arztsohn, der sich
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