Auf der Flucht
eigenwillig eigenbrötlerisch jeglicher FDJ-Gruppierung verschloss und mit uns ging – obwohl er später auf jede Konstellation unserer Gruppe, die ihn nicht zur Hauptperson ausersehen hatte, bis zur Bockigkeit und Verstocktheit eifersüchtig war.
Doch zurück zur Feierstunde, zurück in die Aula! Das Orchester hatte gerade steinerweichend gestrichen, wir hatten frenetisch übertrieben geklatscht (unsere Form von Ironie), Mope Kersten hatte uns strafend angeblickt, da trat der Schulleiter, ein Zeichenlehrer (dessen Aufgabe aber nicht war, uns das Zeichnen beizubringen, sondern politische Zeichen zu setzen) von ausgemachter Hässlichkeit, auf das Podium. Der Mann, vielleicht Mitte dreißig, schielte, schwitzte, hatte angeklebtes Haar auf seiner schon ziemlich fortgeschrittenen Glatze und gelblich auseinander stehende Zähne. Hätte ich ihn rollengerecht in einem Film über die Schule der DDR besetzt, hätte man mir die Klischeehaftigkeit vorgeworfen, mit der ich meine Kalte-Krieger-Mentalität zu untermauern suche.
Dieser Schulleiter also trat vor uns Schüler, reckte ein Stalin-Plakat hoch und hielt es uns anklägerisch entgegen. Auf dem Plakat waren Stalins Augen ausgestochen. Das, so schmetterte er im empörten Diskant, wobei die Stimme dauernd überzukippen drohte, das habe ein Schüler von unserer Schule getan, dieses schreckliche, beispiellose Verbrechen ausgerechnet an Stalin, der doch … – er verfiel wieder in die übliche Litanei vom besten Freund des deutschen Volkes, vom Lehrmeister der Völker, als ein Schüler sich mit laut hörbarem Trompeten die Nase schnauzte. Es klang wie das Röhren eines Hirsches, das Trompeten eines Elefanten im Urwald, auf jeden Fall unangemessen. Die kurze Zeit des eisigen Schreckens, unsere Angst vor den nicht auszumalenden Folgen der frevelhaften Tat, löste sich beim Anhören dieses trötenden Schnaubens in einem den Saal überwältigenden, alle förmlich schüttelnden Gelächter auf.
Der Schulleiter mit seinem Plakat war um seine Angst verbreitende Autorität gebracht. Und während er wutschnaubend, auch vor Verunsicherung, schrie: »Wer war das!«, und das Plakat erst weiter sinnlos hochhielt, dann zur Seite legte und irgendetwas von »Das wird Konsequenzen haben!« rief, stürzten mehrere Lehrer auf die Bühne, um dem Verstörten zu helfen und die Situation wieder in den Griff zu bekommen.
Mope Kersten bestieg die Bühne der Aula und sagte, die Klassen sollten jetzt mit ihren Klassenlehrern zurück in ihre Klassenräume gehen und den Unterricht wieder aufnehmen.
Der Schuldige war schnell ausgemacht. Es war ein Schüler meiner Klasse (wir waren noch drei Jahre vom Abitur entfernt), und Kersten wusste dies natürlich von Anfang an. Von uns aus hatte sich die ausgelassene Heiterkeit fortgepflanzt, und der Schüler, der sich so laut schnaubend geschnauzt hatte, gehörte auch zu uns. Er war ein Arztsohn, sein Vater Leiter eines Krankenhauses. Also wurde schnell herausgefunden oder (unter Kerstens Anleitung) die Idee entwickelt, dass der Nasentrompeter unter einem speziellen Nasen-Problem leide: Er habe durch eine schiefe Nasenscheidewand Atemprobleme, die sich von Zeit zu Zeit in einem überlauten Schnauben und Schnäuzen entlüden. Der Schüler wurde sofort vom Unterricht suspendiert, das heißt: Kersten schickte ihn nach Hause, zu seinem Vater, der sich des Problems annehmen sollte.
Der Vater bescheinigte, unter der Assistenz eines HNO-Spezialisten, seinem Sohn sein besonderes Leiden, so dass klar wurde: nicht aus Subversion habe der Schüler sich schnaubend die Nase gesäubert, sondern wegen einer medizinischen Abnormität. Der Schüler sei also weder ein Trotzkist noch Titoist, noch Abweichler, noch Söldner des Kapitals, noch Diversant oder Lakai des Klassenfeindes. Das ärztliche Attest tat seine gewünschte Wirkung. Und es war eine rettende Notlüge für einen an sich harmlosen Vorgang, der zu den schrecklichsten Konsequenzen hätte führen können.
Wirklich zu den schrecklichsten! Wir hatten gerade von der lebenslangen Haft für eine Siebzehnjährige erfahren, die Stalins Schnurrbart auf einem öffentlich aufgehängten Plakat verunziert hatte; und von zehn Jahren Haft für einen minderjährigen Denkmalbeschmutzer, der Ähnliches gemacht hatte. Das Leben dieser jungen Menschen war wegen eines Schülerstreichs zerstört worden.
Dem schnaubenden Arztsohn ist nichts geschehen. Auf der Schule aber war er ein Jahr später nicht mehr. Wahrscheinlich war die Familie
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