Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
nun nicht mehr allein, ein stiller Beobachter zwar, der schreibt und liest und ißt und trinkt wie sie und doch, zwar für Stunden nur, mit dazu gehöhrt. Nicht mehr dieses grenzenlose Alleinsein in den menschenleeren, freudlosen Comedors und Bars der Bergdörfer. Wir Menschen sind nun mal Sozialwesen und brauchen die Nähe und Wärme der Anderen, auch wenn wir sie nicht kennen. Auch die Schafe suchen die Wärme und Nähe der Herde.
Morgen, am Donnerstag in einer Woche, fliege ich nach Hause. Wie das klingt „nach Hause“. Acht Wochen hatte ich ja kein Zuhause. Irgendwie bin ich nun das Leben aus dem Rucksack leid. Zwei Monate sind einfach zu lang. Noch nie war ich so lange unterwegs. Und jetzt noch diese Schmerzen, die geben mir den Rest. Ich habe Angst vor jedem Schritt, weil jeder sticht wie mit Messern. Alle laufen frei und fröhlich herum, nur ich schleiche mich wie ein Krüppel an meinem Stock. Wie ich all die jungen Menschen beneide, die behende mit flinken, schmerzfreien Füßen durch die Gassen eilen. Wofür werde ich so bestraft, ich, der ich doch auf einem „heiligen“ Weg bin? Im Augenblick kämpft das Böse gegen mich. Wer wird den Kampf gewinnen?
Schön sind diese warmen Nächte, wo es um halb zehn hier in Galicien am äußersten Ende Europas noch taghell ist. Der Brunnen plätschert auf der kleinen Plaza, die Stimmen der jungen Leute hallen gedämpft durch die Gassen, es ist friedvoll und heiter. Welch ein Gegensatz zu gestern in den kühlen, feuchten, nebligen Bergdörfen mit ihrem Geruch nach Kuhscheiße. Ich versuche zu ergründen, wie die Galicier sich von den Spaniern unterscheiden. Ich erkenne nichts, es sind fröhliche junge Menschen, die alle Spanisch sprechen, wobei wahrscheinlich die meisten Studenten gar keine Galicier sind. Es ist mir auch egal. Ich rauche eine Monte Christo für 5,00 Euro das Stück. Andachtsvoll. Hecho da mano. Ich muß diese große, warme Welt feiern. Der Himmel ist pfirsichfarben. „Mach mich aller Schmerzen los, horch, der Seewind weht“ – erinnere ich mich an Borchert. Ich höre Möven vom Fluß.
Das gebrochene Gelenk
Donnerstag, der 22. Juni, Ourense
Ruhetag
Heute Morgen frage ich in einer Apotheke nach einem Orthopäden für meinen kranken Fuß. Man empfiehlt mir ein Centro Medical, das ist ein Ärztehaus, wo viele verschiedene Ärzte gemeinsam praktizieren. Ich zeige wieder meine internationale Versichertenkarte vor, nach etwas Warten unter vielen Spaniern, werde ich aufgerufen, die junge Ärztin stellt eine böse Entzündung am rechten Fuß und am linken Knie fest. Sie empfiehlt mir, nicht mehr weiterzulaufen, da es nur noch schlimmer werden würde. Sie schreibt mir einen netten Brief – handschriftlich – an ihre Kollegin in Santiago, bei der solle ich mich am Montag melden. Sie sind so lieb, die Spanier, und manchmal so herrlich unbürokratisch, wie ich es schon so oft im Süden erlebt habe. Sonst kann sie mir nicht helfen. Hier wird alles mit Penicillin bekämpft.
Sie und auch ich konnten nicht ahnen, daß ich die ganze Zeit ein gebrochenes Sprunggelenk hatte. Vom ersten Tag in Sevilla an. Ich war ja im April in meinem Garten in Italien umgeknickt und dachte die ganze Zeit, ich hätte eine Sehnenzerrung. In Wirklichkeit war aber das Sprunggelenk angebrochen und hätte natürlich äußerste Ruhe gebraucht, um auszuheilen. Da ich aber, die wahre Ursache nicht kennend, ahnungslos 800 Kilometer mit dem schweren Rucksack auf den langen, strapaziösen Pisten, mich nicht schonend, unterwegs war, ist die Sache mit der Zeit immer noch schlimmer geworden. Als ich nach Hause zurückkehrte und die Schmerzen weiter nicht nachließen, bin ich zu meinem Orthopäden gegangen, der erst auch nichts feststellen konnte und eine Computertomografie machen ließ. Erst da wurde ein feiner Haarriß im Sprunggelenk festgestellt. Als der Arzt mir das erklärte, habe ich erst einmal laut schallend gelacht. Verwundert fragte er mich, warum ich so lache.
„Wissen Sie, Herr Doktor“, antwortete ich, „daß ich mit diesem gebrochenen Sprunggelenk 800 Kilometer durch ganz Spanien gewandert bin mit meinem Rucksack auf dem Rücken?“
Das sei gar nicht so verwunderlich, entgegnete er, das Gelenk sei ja nicht durchgebrochen, sondern nur in Längsrichtung angebrochen, das habe man öfters, daß Leute mit angebrochenen Knochen noch lange weiter gehen oder sogar arbeiten und der Bruch mit der Zeit von selber zuwachse. Ich hatte noch lange Schmerzen bis in den Oktober, bis
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