Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
die Pilger, die so frei und unbeschwert, ohne zu arbeiten, jeden Tag an seinem Hof vorbeiziehen. So etwas könnte er nie machen, aber die Sehnsucht bleibt. Er wünscht mir ein „Buen camino. Adiós!“ Begegnungen am Weg.
Nun muß ich mit meinem schlimmen Fuß auch noch die längste, schnurgerade Piste des ganzen Weges durch ein weites Ödland mit Äckern und nassen Wiesen durchqueren, 4,3 Kilometer, wie ein Schnitt durch die Landschaft. Ich bin ja nicht mehr so schnell, der Fluchtpunkt kommt und kommt nicht näher, nichts, wo die Augen Halt finden. Auf halbem Weg raste ich erschöpft an einem Granitkreuz über einem Grab. Ich lese auf dem Steinsockel: In Memoriam Francesco Cid Cid, 1 – 8 – 94. Auf der Steinplatte liegen weiße Plastiklilien, wohl ein Pilger, der unterwegs starb.
Dann kommt auch für mich der Abschied: die kleinen, grauen Dörfchen mit den Hórreos, das alte Granitpflaster auf dem Weg mit den bemoosten Mäuerchen und den schattigen Eichen, der Brunnen im Wald mit der weißen Brunnenkammer, der schmale Pfad durch den Farn, der Aufstieg durch die kahle Heidelandschaft unter wolkenlosem Himmel mit heißer Sonne und kühlem Wind, der Blick von den Felsen in das grüne Tal, der steile Abstieg nach Xunqeira. Ich spüre, nun ist das Ende da.
Ich bin auf das Einfachste reduziert: nur noch Schmerzen, ein Schluck Wasser und das Glück der Erinnerung an das Schöne des Weges, der schon Vergangenheit ist. Noch einmal sitze ich im Schatten der Eichen am Weg, ich, entsetzlich allein, übrig geblieben von allen, nur die Vögel und der Wind und die rauschenden Blätter – und die Fliegen. Nun ist alles zu Ende, Neues kann es nicht mehr geben. Es ist als hätte Santiago noch einmal an diesem letzten Tag den Vorhang zur Seite gezogen. Gleichsam, als sei es ein Abschied vom Weg, schenkt mir mein Heiliger heute noch einmal alle Stationen des Weges, innerhalb weniger Kilometer zusammengerafft.
Es ist vollbracht. Der Leidensweg liegt hinter mir, morgen geht es mit dem Bus nach Ourense. Heute habe ich wirklich starke Schmerzen in Knöchel und Knie. Alle zwei Stunden eine Schmerztablette hilft ein bißchen. Länger nicht. Ich bin nun leer und ausgebrannt. Alle meine Kraft habe ich dem Weg gegeben, nun kann ich nicht mehr. Ich habe erkannt, daß die Schmerzen das Böse sind, das verhindern will, daß ich mit Jubel und Freude in Santiago einziehe: „Viene cantando l’alegría“ – wie ich im letzten Jahr mit den Tausenden von anderen Pilgern in der großen Kathedrale von Santiago sang. Santiago und ich werden nun gemeinsam und auch mit Hilfe der Medizin das Böse in mir bekämpfen. Ich will nicht als Geschlagener, Leidender, Enttäuschter in Santiago einziehen sondern als Triumphierender. Dies war diesesmal meine Via Dolorosa, aber es wird meine Via Triumphans werden. Mein Heiliger wird mir helfen, diesen Kampf zu gewinnen, Vinceremos, Jakob, vinceremos.
Die Herberge liegt diesmal weit außerhalb des Städtchens in einem Sportzentrum, weiß und modern, mit Blech und Glas und buntem Holz. Die Finnen sind schon da, auch einige spanische Radler. Leider liegt die Herberge fast 2 Kilometer außerhalb des Ortes. So muß ich langsam unter Schmerzen bis ins Zentrum humpeln, wo ich bald in den schönen, alten Gassen die Bar Retiro finde, die auch die Schlüssel zur Herberge hat. Hinter dem Haus entdecke ich ein weinüberranktes Gärtchen voller bunter Blumen. Ich sitze an einem kleinen weißen Tischen auf der schattigen Terrasse, ein kühler Ribeido funkelt im Glas, dazu ein Schälchen Aceitunas, ich strecke die Beine lang, rauche ein Zigarillo, plaudere ein wenig mit der netten Wirtin und träume von meiner Weinterrasse in Italien. Sehnsucht schleicht sich ein, Heimweh, ich war wohl zu lange weg. Acht Wochen Alleinsein, Strapazen, Anstrengungen, all das Neue, Viele, Schöne, nie Gesehene war wohl doch etwas zu viel. Ich bin froh, daß ich morgen nicht mehr weiter muß.
San Francisco
Mittwoch, der 21. Juni, von Xunqueira de Ambía
nach Ourense
40. Reisetag
Um fünf Uhr morgens poltern die Finnen bereits im Schlafraum. Gestern aßen wir noch gemeinsam zu Abend, eine köstliche Linsensuppe und dann das Übliche. Sie laufen heute nach Ourense. Ich fahre. Um sieben Uhr bin ich bereits an der Bushaltestelle. Den Herbergsschlüssel habe ich an der Bar Retiro unter den Blumentopf gelegt. Ein alter Mann mit Baskenmütze und zahnlosem Mund und eine stämmige Frau mit Einkaufstasche warten mit mir im nebelfeuchten Morgen.
Weitere Kostenlose Bücher