Auf der Silberstrasse 800 Kilometer zu Fuss durch die endlosen Weiten Spaniens
versuche mir das heiße, lärmende Leben vor 2000 Jahren vorzustellen mit seinen Gladiatoren, blutigen Schaukämpfen, Wagenrennen, das Johlen und Lärmen der Menge, das Brüllen der Löwen, das Peitschenknallen, die Schreie und das Röcheln der Gequälten. Als ich die Augen wieder öffne, ist die Arena leer, gelb und verbrannt, die Gladiatoren sind abgetreten, die Touristen verschwunden, der Wind treibt kleine Wölkchen über den Sand. Vorbei, vorbei die alte Geschichte, auf deren Wegen ich dennoch in den nächsten Wochen wandere.
Auf dem Hügel über dem Stadion liegt die alte ausgegrabene Stadt, die weiß gepflasterten Straßen von schwarzgrünen Zypressen streng gesäumt, hinter den niederen Mauern der ehemaligen Häuser träumen entzückende kleine Höfchen mit weißen Marmorsäulen, Becken, in denen früher das Wasser sprudelte, Mosaiken, die Vögel, Delphine, Poseidon und Neptun darstellen. Dies hier sind die Vorläufer der weißen schattigen Innenhöfe, die ich gestern in Sevilla sah, die erste der drei großen Kulturen, durch die ich auf meinem Pilgerweg wandere. Die ersten Touristinnen, zwei Kanadierinnen, bewundern den „Jakobspilger“ mit Strohhut, Muschel und Rucksack.
Nun wird es aber wirklich heiß, es ist schon über 30 Grad, ich muß jetzt irgendwo im Schatten rasten. Nur hier im Park mag ich nicht, da sind mir zuviel Neugierige und lärmende Gruppen. Also hinaus auf die schattenlose Straße, der Asphalt klebt an den Schuhen, ich quäle mich über endlose Autobahnabfahrten und knirschenden Kies. Hinter der letzten Unterführung und dem letzten Kreisel bin ich durch, auf einem Hügel am Fluß erspähe ich einige Eukalyptusbäume. Zwar liegen hier Plastikmüll und verrostete Konservendosen, schon andere scheinen diesen Platz benutzt zu haben, aber ich kann jetzt nicht mehr weiter, außerdem sind es die letzten Bäume vor der langen, endlosen Ebene, wie ich von meinem Ausguck bemerke. Mein erstes Picknick von den vielen, die noch folgen werden. Den schweren Rucksack an den Baum gestellt, die Isomatte ausgerollt, die heißen, staubigen Schuhe von den müden Füßen, die Wasser- und die Weinflasche in die Schuhe gestellt, daß sie nicht umfallen, die Tomate in Stücke geschnitten, Salz aus dem Streuer darauf, das Weißbrot gebrochen, und da sitze ich nun an meinem ersten Tag und blicke auf den langen, langen Weg hinunter, der endlos durch die grünen Felder nach Norden führt. Den würzigen Serranoschinken mit dem nicht mehr kühlen Rotwein heruntergespült, den harten schon fettigen Queso mit dem Messer in mundgerechte Stücke geschnitten, danach den saftigen, tropfenden Pfirsich als Nachtisch – mein erstes einfaches Pilgermahl, wie ich es nun jeden Mittag genießen sollte - zum Schluß noch ein Zigarillo in den blauen Himmel gepafft, dann die Augen zu einer kurzen Siesta geschlossen. Schöneres vermag ich mir nicht vorzustellen.
Unten auf dem Weg sehe ich schon die Kameraden vorbei ziehen, zu zweit, allein, eine Gruppe zu viert, die einen langsam schreitend, die anderen schneller, folgen sie dem schnurgeraden Band des Weges, bis sie der Horizont als verschwindende winzige Pünktchen irgendwo in der Ferne verschluckt. Sie erkennen mich nicht, ich beobachte sie, heute Abend werde ich sie alle wiedertreffen in Guillena. Um zwei Uhr steige ich von meinem Hügel hinab und marschiere auf dem Betonband der Piste. Das ist der erste dieser endlosen, monotonen, schnurgeraden Wege, die wie mit dem Lineal durchgezogen dieses flache Land zerteilen und denen ich in den nächsten Wochen immer wieder folgen sollte bis zur Erbarmungslosigkeit.
Weit vor mir läuft ein Pilger, der plötzlich vom Weg abweicht und links in einem Wäldchen verschwindet. Ich wundere mich, warum er den breiten, geraden Weg verläßt und über den Acker läuft. Bald erkenne ich, warum: läuft die Betonpiste doch durch eine Senke, die von einem Bach überflutet ist. Teufel auch, jetzt verstehe ich, warum der Pilger die Straße verlassen hat. Hier ist kein Durchkommen ohne nasse Füße – dies ist eine Furt, eine Brücke gibt es nicht. Also folge auch ich dem Trampelpfad über den Acker in das Wäldchen. Hier liegt über dem Bach ein Baumstamm, schmal, ohne Geländer. Wie soll ich da freihändig balancierend mit dem schweren Rucksack herüber kommen? Ich greife in die Zweige der Büsche rechts und links und schaffe bis zur Mitte. Doch der Zweig ist zu schwach, er biegt sich immer mehr nach unten, gleich wird er brechen, jetzt
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