Auf der Sonnenseite - Roman
Der anonyme Verfasser jenes offenen Briefes – er nannte sich »Mescalero« und gehörte zu den »Stadtindianern« – hatte sich selbst prüfen wollen und diese klammheimliche Freude ehrlich zugegeben, obgleich er für sich und den politischen Kampf seiner Freunde solche Morde ausschloss. Doch gehörte Buback auch für ihn ins »rot-schwarze Verbrecheralbum«, auf gut Deutsch: Um den muss man nicht trauern.
Auch andere unbekannt gebliebene Verfasser äußerten ihre Stellungnahme zu diesem brutalen Verbrechen. In Hamburg wurde ein Plakat entdeckt mit einem ähnlichen, nur eben noch deutlicheren Text: Das Dahinscheiden von Buback – um den Lumpen ist es nicht schade, aber Terrorismus lohnt nicht. In WestBerlin hingegen verlangte eine »Undogmatische Gruppe«: Schafft viele Bubacks!
Sympathisanten sie alle, selbst wenn sie den Terrorismus als »falsches Kampfmittel« ablehnten. Hannah konnte nur den Kopf schütteln. Was für ein Menschenbild hatten diese Schreiber! Wollten sie denn wirklich einen Krieg – einen Bürgerkrieg! – heraufbeschwören? Und wieso sprach kaum jemand von Bubacks ermordeten Mitarbeitern? Waren die keinen Kommentar wert? Diese selbst ernannten Revolutionäre diskreditierten für lange Zeit die gesamte linke Bewegung.
Drei Wochen nach dem Karlsruher Mord wurden die Urteile gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe verkündet. – Lebenslänglich! In allen drei Fällen. Grund genug für die Führungsspitze der RAF, auf die Genossen in Freiheit Druck auszuüben; die »Big Raushole« solle endlich beginnen.
Der erste Versuch wurde im Juli gestartet, Codewort »Big-Money«. Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank , sollte als Geisel genommen und zum Austausch angeboten werden. Das RAF-Kommando – eine junge Frau war mit »Onkel Jürgen« bekannt – stand mit Blumen vor der Tür, klingelte und wurde eingelassen. Als die geplante Entführung nicht klappte, wurde Ponto kurzerhand erschossen. Wer dem »Schweinesystem« diente, um den war es nicht schade.
Das Haus, in dem der Mord geschah, stand im Taunus – und damit in unmittelbarer Nähe zum Wohnort der Familie Lenz. Was es für Hannah nicht leichter machte, diese Nachricht zu verdauen. Und auch Lenz empfand es als bedrückend, Publikum zu sein, in der ersten Reihe zu sitzen und hilflos zusehen zu müssen, wie diese selbst ernannten Rächer der Enterbten mit Menschenleben umsprangen.
Im Monat darauf: ein erneuter Anschlag auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Mit einem selbst gebastelten Raketenwerfer, einer wahren Höllenmaschine, sollte das Gebäude beschossen werden. Eine Aktion, die nur deshalb fehlschlug, weil der für die Zündung benötigte Wecker nicht aufgezogen war. Eine Schusselei der RAF, der eine Vielzahl von Menschen ihr Leben verdankte.
Nur zehn Tage später, an einem Spätnachmittag Anfang September, der zweite Versuch, die RAF-Führungsclique zu befreien; Beginn eines lang andauernden Albtraums. Diesmal wurde die Wagenkolonne von Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer überfallen. Und nun klappte die Entführung. Sie konnte auch kaum schiefgehen, mit solch unvorstellbarer Brutalität wurde sie durchgeführt. Vier von Schleyers Begleitern, der Fahrer Heinz Marcisz und drei zum Schutz abgestellte Polizisten – Reinhold Brändle, Helmut Ulmer und Roland Pieler – ließen dabei ihr Leben. Sie wurden aber nicht einfach nur erschossen – sie wurden von mehr als hundert Kugeln durchsiebt.
Lenz erfuhr davon erst am Abend. In der Küche. Er bereitete gerade das Mittagessen für den nächsten Tag vor. Einen Gemüseeintopf sollte es geben, der viel Schnippelei erforderlich machte, weshalb er Hannah zur Unterstützung angefordert hatte. Sie hörten den Nachrichtensprecher die Meldung verkünden, ließen die Messer sinken und sahen sich nur stumm an. Jetzt, sie spürten es deutlich, hatte dieser »Krieg« seinen Höhepunkt erreicht; letzter Beweis dafür, dass es der RAF auf ein Menschenleben mehr oder weniger nicht mehr ankam.
In der darauffolgenden Nacht lagen sie lange wach. »Ich bekomme richtig Angst«, flüsterte Hannah, an die Zimmerdecke starrend. »Das Ganze hat so wenig Sinn und Verstand.« Und wieder fragte sie sich, ob jetzt wohl endlich auch dem letzten Sympathisanten die Augen aufgegangen waren. »Da muss doch jeder Angst bekommen. Das darf doch nicht ewig so weitergehen.«
Lenz konnte ihr darauf keine Antwort geben, beobachtete seine Umgebung fortan aber noch genauer, hörte hin,
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