Auf der Sonnenseite - Roman
meine Kinder an Bord, würde ich das von euch verlangen, ihr Regierenden in Bonn. Was gibt’s da überhaupt lange abzuwägen? Doch Hannah, Silke und Micha waren nicht mit an Bord, und so konnte er auch den von Kanzler Helmut Schmidt geführten Krisenstab verstehen: Gehen wir auf die Forderung der Terroristen ein, entführen sie morgen wieder eine Maschine und übermorgen auch und immer so weiter, um den Staat jedes Mal neu zu erpressen. Und jedes Mal sind Menschen an Bord, heute einundneunzig, morgen vielleicht dreihundert. Nein, der Staat durfte nicht nachgeben, doch war Lenz froh, dass nicht er in diesem Krisenstab sitzen und über Menschenleben entscheiden musste.
Nach dem Mord von Aden flog der Co-Pilot die Landshut . Mit dem toten Kapitän an Bord und ohne zu wissen, wie der wahre Zustand seiner Maschine nach dieser Notlandung war; es hätte ja Sand in die Motoren geraten sein können.
Durch tropische Gewitter ging es bis nach Mogadischu. Dort saß man fest, tagelang, unter unvorstellbaren psychischen und physischen Belastungen für das Flugpersonal und die Passagiere. Und unter unmöglichen hygienischen Bedingungen. Wer jemals längere Zeit in einer wartenden Maschine gesessen hatte, konnte sich die Qualen der Menschen an Bord gut vorstellen.
Schließlich drohten die Entführer, das Flugzeug zu sprengen – wozu sie die Passagiere bereits gefesselt und mit Alkohol übergossen hatten. Damit sie besser brannten. Es war bereits »fünf vor zwölf«, da – endlich! – eine Reaktion der deutschen Regierung. Man habe sich entschlossen, die inhaftierten RAF-Leute nun doch freizulassen, übermittelten die Regierenden den Entführern und baten um eine Verlängerung des Ultimatums. In Wahrheit war längst eine Antiterroreinheit des Bundesgrenzschutzes auf den Weg nach Mogadischu gebracht worden – um die Erstürmung der Landshut vorzubereiten. Kurz nach Mitternacht, anderthalb Stunden vor Ablauf des verlängerten Ultimatums, sollte der Coup gestartet werden. Natürlich wusste die Öffentlichkeit von diesem Vorhaben nichts.
Lenz erfuhr davon erst am frühen Morgen des 18. Oktober. Auf dem Weg zur Arbeit. Er stellte das Autoradio lauter – und hörte von dem kaum fassbaren Erfolg der GSG-9-Leute. Das riskante Unterfangen, der tollkühne, nächtliche Handstreich war gelungen. Nach einhundertsechs Stunden Folterqualen waren alle noch lebenden Geiseln befreit – und das größtenteils unverletzt! Drei der arabischen Terroristen allerdings hatten ihre »Solidarität« mit dem Leben bezahlen müssen, nur eine der beiden Frauen überlebte schwer verletzt.
Ein heiterer Vormittag bei Willgruber & Dietz . Alle atmeten erlöst auf. Wäre dieser Sturmangriff nicht so glimpflich verlaufen, so die einhellige Meinung, hätte die Regierung Schmidt zurücktreten müssen. Das Glück des Tüchtigen und die gute Ausbildung der GSG-9 hätten den Bundeskanzler gerettet – und die Bundesrepublik davor bewahrt, in ihren Grundfesten erschüttert zu werden.
Dass Baader, Ensslin und Raspe noch in der gleichen Nacht in ihren Zellen Selbstmord begangen hatten, erfuhr Lenz erst auf dem Heimweg. Wieder aus dem Autoradio. Gudrun Ensslin hatte sich mit einem Radiokabel erhängt, Andreas Baader hatte sich in den Nacken und Jan-Carl Raspe sich in die linke Schläfe geschossen. Eine vierte Terroristin, Irmgard Möller, hatte sich Stichwunden in der Brust zugefügt. Mit einem Küchenmesser. Sie sei aber, so der Radiosprecher mit unterkühlter Stimme, nicht in Lebensgefahr.
Lenz fuhr langsamer und spürte seinen Gefühlen nach. Erschütterten ihn diese Selbstmorde – oder war er erleichtert? Überwog die Trauer über diese drei schiefgelaufenen Leben – oder die Hoffnung, dass ihr »Volkskrieg« damit bald zu Ende sein könnte?
Diese hasserfüllten Bürgerkinder! Sie hatten sich in ihr Bild von der Bundesrepublik eingesponnen wie in einen Kokon, aus dem sie nicht mehr herausfanden. Wie blindwütige Berserker hatten sie um sich geschlagen, Menschen waren ihnen zum Opfer gefallen, von denen die meisten nur den Beruf ausgeübt hatten, mit dem sie sich und ihre Familien am Leben erhielten …
Nein, kein Mitleid, keine Trauer! Aber auch keinerlei Freude oder Genugtuung. Hatte wohl alles so kommen müssen; gefangen in ihrer von Politparolen und versponnenen Thesen bestimmten Vorstellungswelt hatte es für Baader, Ensslin und Raspe irgendwann kein Zurück mehr gegeben. Ihr Tod war nur die letzte Konsequenz, die sie noch hatten ziehen können.
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