Auf der Sonnenseite - Roman
genau wegen der Vorbehalte, die Fränze und Ralf ihrem Staat gegenüber hatten. Als seine beiden besten Freunde Ete Kern und Hanne Gottlieb kurz nach dem Mauerbau in den Westen flohen, war er, der damals Achtzehnjährige, nicht mitgegangen. Eben weil er nicht in Adenauers schmutziges Wasser eintauchen wollte und die gesamte muffige Fünfzigerjahre-Politik des westlichen Staates ihm nicht gefiel. Die zu jener Zeit in schöner Regelmäßigkeit die Regierung stellende CDU hatte das Bekenntnis zum Christentum zum Monopol ihrer Partei gemacht, sich ihren Kritikern gegenüber aber stets außerordentlich unchristlich verhalten. Bestes Beispiel: das KPD-Verbot! 1956 war es durchgesetzt worden, was Tausende Verfahren wegen Hochverrats und politischer Organisationsvergehen zur Folge hatte. Es war vorgekommen, dass Angeklagte vor jenen Hakenkreuzrichtern standen, vor denen sie schon zu Nazizeiten gestanden hatten. Dabei waren die paar bundesdeutschen Kommunisten zum Schluss nicht mal mehr über die Fünf-Prozent-Hürde gekommen. Später hatten diese »Christen« einem Willy Brandt in jedem Wahlkampf seine uneheliche Geburt vorgeworfen und Herbert Wehner seine vormalige KPD-Mitgliedschaft. Ehemalige NSDAP-, SS- und SA-Mitglieder hingegen blieben unbehelligt; die alten Eliten durften gern auch die neuen sein.
Nein, diese Bundesrepublik war ihm nicht sehr verlockend erschienen. Doch hatte es auch damals schon eine andere, ihn neugierig machende, sympathischere Bundesrepublik gegeben, in der es zu heftigen Protesten gegen die Wiederbewaffnung gekommen war. Ohne mich hatten die Protestierer auf ihre Plakate geschrieben. Wer in der DDR hätte laut »ohne mich« sagen, wer später den Wehrdienst verweigern dürfen, ohne seine gesamte Zukunft aufs Spiel zu setzen?
Doch von Hannahs und seinen DDR-Erfahrungen wollten Fränze und Ralf nichts wissen. Ihre »DDR-Sozialisation« machte sie für die beiden zu politischen Wickelkindern, die die Welle der Gewalt, in die sie hineingeraten waren, eben einfach nicht verstehen konnten. Er jedoch, Lenz, verstand Fränze und Ralf nicht. War ihnen denn nicht klar, dass Gewalt nur neue Gewalt zeugte? Es gab mörderische Gesellschaftssysteme, die ohne Gewaltanwendung nicht zu beseitigen waren, obwohl sie unbedingt beseitigt werden mussten – ohne Gegengewalt würden ja vielleicht die Nazis noch regieren –, aber war die Bundesrepublik der Siebzigerjahre, die gerade dabei war, viele alte Hüte abzulegen, und wo die Bürger Freiheiten genossen, von denen in so manchem anderen Land nur geträumt werden konnte, ein solcher Staat? Und waren die RAF-Leute wirklich Sozialisten? »Links sein« stand seines Erachtens für Aufklärung, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit und nicht für Bevormundung und Missionarsgehabe. Genau so aber agierte die RAF. Sie warf mit Parolen, Thesen und Phrasen um sich, hielt sich für klüger, fortschrittlicher und aufgeklärter als der Rest der Menschheit und bestimmte selbstherrlich über Leben und Gesundheit ihrer Mitmenschen. – Und Fränze, die sonst so hellhörige und kritische Frau Dr. Franziska Möller, wollte das nicht sehen? Blendete das einfach aus? Sie glaubte, nur weil Hannah und er das letzte Jahrzehnt im Osten gelebt hatten, wüssten sie nicht, was falsch und richtig ist? Nein, da lohnte keine Entgegnung, da blickte er lieber in sein Weinglas oder zu den Ästen der Eiche hoch, die in ihrem satten Grün prunkte, als wollte sie aller Welt zeigen, was wirklich wichtig war im Leben; einfach, weil sie das nun schon seit zwei- oder dreihundert Jahren in jedem Sommer tat und so frisch und unternehmungslustig aussah, als würden gut und gerne noch hundert dazukommen.
Fränze aber redete weiter auf Hannah und ihn ein, und ihr Ralf, das Seelchen, den Lenz sonst so mochte, weil er jeden Käfer, der ihm auf seinem Weg begegnete, sorgsam aufhob und zur Seite trug, schien sich an diesem schönen Tag wie zum Selbstschutz gegen alle »feindlichen Anschauungen« verhärtet zu haben. Ein ums andere Mal unterstützte er Fränze, indem er ihr ins Wort fiel, um, was sie gesagt hatte, mit noch kräftigeren, noch eindeutigeren Schlagworten zu wiederholen.
»Dieses ganze unentwegte Gewinnstreben, das auf menschliche Existenzen keine Rücksicht nimmt«, beschwerte er sich. »Diese Piefigkeit der Gewerkschaften und SPD-Ortsverbände! Alles satte, selbstzufriedene Spießer, die mit dem Arsch im Warmen sitzen und den Lebenshunger anderer nur noch rein theoretisch diskutieren
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