Auf der Sonnenseite - Roman
darf doch keine bloße Schauveranstaltung sein. Da muss man an die Wurzeln gehen, da muss was passieren!«
Fränze wusste, was alles faul im Staate war. Es begann mit seinen »Wurzeln«, der Gründungsgeschichte, dem Neubeginn nach dem Krieg, der ihrer Meinung nach nur eine Fortsetzung des Alten, Untergegangenen war. »Es waren die westlichen Alliierten, die uns die Krücken gaben, an denen unsere Demokratie laufen lernen sollte«, sagte sie und pochte dabei heftig auf den Gartentisch. »Und? Haben wir gehen gelernt? – Nee, konnten wir ja gar nicht, weil all unsere ehemaligen und Immer-noch-Nazis sich diese Krücken nur widerwillig unter die Arme klemmten.«
Es war ein so schöner Sommertag. Die leichte, warme Brise, die über dem Taunus lag, streichelte ihnen die Gesichter, der Wein war süffig, die Laugenbrezeln schmeckten, die meisten Ausflügler blinzelten gut gelaunt in die Sonne. Und doch, so empfand es Lenz, lag ein Schatten über diesem Treffen mit Fränze und Ralf; der Schatten des Nichtverständnisses. Was Fränze ihnen da erzählte, war Hannah und ihm nicht neu, sie hatte ihnen schon früher solche Vorträge gehalten. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sich gefreut hatte, als die junge Journalistin Klarsfeld den damaligen Bundeskanzler Kiesinger ohrfeigte. Vor der WestBerliner Kongresshalle war das geschehen, vor laufenden Kameras, weltweit beachtet. Als diese Szene in den Fernsehnachrichten gezeigt wurde, war sie in OstBerlin zu Besuch. »Endlich mal ’n Zeichen«, hatte sie gesagt, und ihre kurzen, blonden Haare hatten sich zu Angriffsstacheln aufgerichtet. »Endlich mal ’ne Aktion!«
Damals hatte er ihr aus vollem Herzen recht gegeben. Bereits am 1. Mai 1933 war dieser Kiesinger Mitglied der NSDAP und später sogar Verbindungsmann des nationalsozialistischen Außenministeriums zu Goebbels’ Propagandaministerium geworden, um durch »Ätherkriegsführung« die Moral der feindlichen Bevölkerung zu untergraben. Wie hatte ein solcher Mann nur in dieses Amt kommen können, hatte er sich gefragt, wer hatte den bloß gewählt? Hätte seine Partei nicht jemanden mit sauberer Weste kandidieren lassen können? Oder empfanden die CDU-Oberen Kiesingers Weste als gar nicht so braun?
Ja, damals hatte er Fränze recht gegeben und bisher keinerlei Grund gesehen, auch nur eine seiner Fragen an die bundesdeutsche Politik zurückzunehmen. Fränze aber redete auf Hannah und ihn ein, als wären sie zwei eingeschworene Bejubler ihres neuen Staates. Es sei die Erbsünde der frühen Bundesrepublik, dozierte sie weiter, jene nicht aufgearbeitete trübe Vergangenheit, an der die Bundesrepublik noch immer kranke, die den Krieg der RAF erst möglich gemacht habe. Hätten ja nicht weniger als dreiundfünfzig ehemalige Nazis und einhundertelf »Persönlichkeiten«, die den Nazis als Diplomaten, Juristen und Beamte oder in der Kriegswirtschaft gedient hatten, im ersten Deutschen Bundestag gesessen. Und von keinem Geringeren als dem ersten deutschen Bundeskanzler Adenauer, der eng mit vielen ehemaligen Nazis zusammengearbeitet habe, darunter auch mit einem Hans Globke, der die KZ im Kopf miterbaut hatte, sei das Wort überliefert: »Solange ich kein sauberes Wasser habe, muss ich mit schmutzigem waschen.«
»Na, da frage ich euch doch, ob es nach dem Krieg wirklich so wenig sauberes Wasser gegeben hat?«, erregte sie sich. »Oder ob nicht gerade das saubere Wasser angefeindet worden ist, eben weil es sauber geblieben war?« Und ihr Ralf, der sonst so gemütliche Bernhardiner, fragte gespielt naiv, wie Adenauer denn habe glauben können, mit schmutzigem Wasser irgendwas »reinigen« zu können.
»Nee!«, antwortete er sich selbst mit bösem Blick. »Nichts ist gesäubert worden! Wir stecken noch immer bis zum Hals im Nazi-Dreck. Nur ist daraus inzwischen ’ne richtig feste Kruste geworden, im Schonwaschgang kriegt man die nicht weg. Und genau das ist es, was die RAF so radikal macht.«
Lenz sah zu den Ästen der mächtigen Eiche hoch, unter der sie saßen und die ihnen nun wirklich bald Schatten spenden würde, und fragte sich, ob es lohne, irgendetwas zu antworten. Er hatte ja gar nichts zu widersprechen, kannte die bundesdeutsche Geschichte besser, als Fränze und Ralf sich das vorstellen konnten. Die andere deutsche Republik hatte ihn immer sehr interessiert, war sie doch für jeden, der in der DDR nicht klarkam, die naheliegendste Alternative. Für ihn allerdings war sie es lange nicht gewesen. Und das
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