Auf der Sonnenseite - Roman
… Da frage ich euch, was hat das mit Demokratie zu tun? Nicht verschnaufen, weiterkaufen, so müsste die erste Zeile unserer Nationalhymne lauten. Überschrift: Wohlstand statt Freiheit!«
Lenz blickte ihn nur kurz an, dann widmete er sich wieder seinem Wein.
Ganz klar, wer in diesem Teil Deutschlands aufgewachsen und seine Welt mit wachen Augen sah, bemerkte zuerst die dunklen Ecken, nicht die etwas helleren wie Hannah und er. War ja auch richtig, dass jeder dort, wo er lebte, Licht machen wollte; Raub und Mord aber entschuldigte das nicht. Der Zweck, wenn es denn überhaupt einen gab, heiligte nicht die Mittel.
Er dachte das nur, sagte es nicht. Wozu mitreden, wenn einem jedes Verständnis für die erörterten Probleme abgesprochen wird? Hannah allerdings konnte nicht länger den Mund halten. »Menschenskinder!«, fuhr sie Ralf an. »Was redest du nur für ein Zeug? Ja, eure Kritik ist berechtigt! Es muss sich noch vieles ändern … Aber das bewirken doch nicht eure ›revolutionären Köpfe‹. Mit deren Geschwafel kann man ja gar nichts anfangen. Die haben ja überhaupt keine konkreten politischen Forderungen, es geht immer nur um sie selbst. Und glaubt ihr denn ernsthaft, dass, wer so leichtfertig Menschenleben opfert, sich auf irgendeine höhere politische Moral berufen darf?«
Fränze hatte einen solchen Ausbruch schon erwartet. »Auch wenn ich die Notwendigkeit mancher Aktionen nicht einsehen kann«, versuchte sie Hannah zu besänftigen, »so glaube ich doch, dass die Wut der RAF berechtigt ist. Dieses Land muss endlich aufwachen! Und vielleicht ist das, was jetzt geschieht, von einer höheren Warte aus betrachtet, ja so was wie ein reinigendes Gewitter.«
Und ihr treuer, von Hannahs Worten nur wenig beeindruckter Ralf nickte dazu und sagte wieder: »Na klar, ihr könnt das nicht verstehen, ihr vergleicht immer alles mit eurer DDR. Aber nur weil da vieles noch beschissener ist, müssen wir doch nicht zu allem Ja und Amen sagen, was unsere Bonzen uns aufs Auge drücken. Wir sind eben nicht so zum Gehorsam erzogen wie ihr. Oder konkreter: Wir lassen uns den Scheiß der Politiker nicht so brav gefallen.«
Darauf gab’s dann auch für Hannah nichts mehr zu erwidern. So saßen sie nur noch da, jeder unzufrieden mit dem Gespräch, das sie geführt hatten, und lauschten den Vögeln, die von ihrer wahrhaft höheren Warte, den mächtigen Ästen der alten Eiche, auf sie herabsahen und lauthals den Sommer feierten. Und waren froh, als sie endlich auseinandergehen durften.
8. Rasterfahndung
D as Jahr 1977. Das Schreckensjahr! Die Serie der Attentate begann im April, in Karlsruhe. Da wurde eines Morgens um Viertel nach neun Uhr vom Rücksitz eines Suzuki -Motorrads aus auf einen blauen Dienst- Mercedes gefeuert. In dem Pkw saßen der Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer Wolfgang Göbel und der Chef der Fahrbereitschaft Georg Wurster. Alle drei fielen sie den Pistolenkugeln zum Opfer; ein späteres Bekennerschreiben der RAF sprach von »Hinrichtung«. In Wahrheit handelte es sich um einen ganz simplen Racheakt an der Institution, die den Feinden des Staates das Leben schwer machte.
An jenem 7. April hatten Hannah und Manfred Lenz ihren Kindern einen Kinobesuch versprochen; ein Woody-Allen-Film, der augenzwinkernd an Tolstois Krieg und Frieden erinnerte; sehr lustig, sehr ironisch. Weil sie die Kinder nicht enttäuschen wollten, hatten sie den Kinobesuch nicht ausfallen lassen. Doch konnten sie dem Geschehen auf der Leinwand kaum folgen. Was geschehen war, war ihnen unbegreiflich. Drei Menschen – einfach so dahingeopfert! Für eine »gute« Sache? – Was für ein Widersinn, was für eine wahnwitzige Tat!
Nach dem Kinobesuch versuchte Lenz, Silke und Micha diesen Dreifachmord zu erklären. Die Kinder, Silke dreizehn, Micha zehn Jahre alt, hatten ja ebenfalls mitbekommen, was geschehen war. Doch fand er nicht die richtigen Worte. Diese kaltblütige Liquidation, einfach so, aus heiterem Himmel heraus, das war eine »neue Qualität« des Terrors. Das sah nach Verzweiflung aus, nach Scheitern all dessen, was die RAF hatte erreichen wollen. Man schoss nur noch um sich.
Hannah fragte sich, ob es wohl noch immer Sympathisanten gab, und dachte dabei vor allem an Fränze. Wenige Tage später erhielt sie die Antwort – in dem Artikel Buback – Ein Nachruf , der im Mitteilungsblatt der Göttinger Studentenschaft abgedruckt war und in dem von »klammheimlicher Freude« über diesen Mord gesprochen wurde.
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