Auf der Sonnenseite - Roman
diese Zeit sein würde.«
Dumm von ihm, dass er das gefragt hatte. Seine Mutter war ja nun auch schon seit dreißig Jahren tot, und trotzdem sah er sie vor sich, als hätten sie erst vor Kurzem das letzte Mal miteinander gesprochen.
»Es gibt keine Menschen, deren Bilder ich so klar im Kopf habe wie die meiner Eltern«, sagte Hilde Friedländer da auch schon. »Gesichter von Leuten, die ich erst gestern getroffen habe, verblassen schnell. Meine Eltern werde ich bis zu meinem letzten Tag so klar und deutlich vor mir sehen. Und auch ihre Stimmen im Ohr haben.«
»Ein großartiges Bild!«, gab Lenz seiner Empfindung Ausdruck. Und als er ihrem misstrauischen Blick begegnete, sah er ihr fest in die Augen und wiederholte: »Es ist ein großartiges Bild. Ich sage das nicht aus Höflichkeit. Und auch nicht wegen der Geschichte, die dahintersteckt, es ist einfach großartig gemalt.«
Da glaubte sie ihm endlich und gestand, seit ihrer Jugend zu malen. Und als er sie darum bat, zeigte sie ihm weitere Arbeiten, australische Impressionen und Erinnerungen an ihre Berliner Kindheit. Darunter auch ein Bild ihres Vaters, ein großer, schlanker, sehr nachdenklich blickender Mann mit kurz geschnittenem, in der Mitte gescheiteltem Haar, Brille und Schnauzer und goldener Uhrkette über der grauen Weste. Und auch dieser Mann wirkte so lebendig, als wollte er jeden Augenblick den Mund öffnen.
Lenz besah sich alle diese Gemälde sehr lange und fragte schließlich nach Elsa: Ob sie ihre Puppe denn noch habe?
Sie lächelte verlegen, verschwand in einem kleinen Zimmer – er nahm an, dass es ihr Schlafzimmer war – und kehrte mit einer sehr ramponierten, blonden Puppe zurück. Eine Hand fehlte und ein Auge, auch hatte sie nur noch wenige Haare.
»Habe sie nie in Ordnung bringen lassen«, entschuldigte Hilde Friedländer Elsas Zustand. »Hatte immer das Gefühl, das würde eine Australierin aus ihr machen. Und sie sollte doch die Gefährtin meiner Kindheit bleiben.«
»Und Ihre Kinder?«, fragte er da vorsichtig. »Haben die auch mit Elsa gespielt?«
Sie vermutete hinter dieser Frage die Bitte um Auskunft über ihr weiteres Leben und lag damit nicht falsch. Entsagungsvoll hob sie die Hände. »Aber ich hatte ja nie Kinder … Wahrscheinlich, weil ich selbst immer eines geblieben bin. Zweimal war ich verheiratet, beide Männer haben es nicht ausgehalten mit mir … Sie verlangten immer, dass ich ›erwachsen‹ werde, doch konnte oder wollte ich das wohl nicht.«
Darauf gab es nichts zu erwidern oder nachzufragen, und so verabschiedete Lenz sich. War ja längst Zeit zu gehen. Doch ließ ihre Geschichte ihn nicht los. Den ganzen Abend und die halbe Nacht lang spazierte er durch Melbourne und dachte an Hilde Friedländer.
Was damals geschehen war, würde nie verjähren. Diejenigen, die verlangten, endlich mal einen Schlussstrich unter die traurige Vergangenheit zu ziehen, strengten sich vergebens an. Über diese einem normalen Menschenhirn unbegreifliche industrielle Ermordung von Millionen Menschen würde auch in tausend Jahren noch berichtet werden, da war er sich ganz sicher.
All diese Ungeheuer um den Psychopathen Hitler! Zu anderen Zeiten oder in einem anderen Land wären sie ihr Leben lang kleine Krakeeler geblieben. Doch wozu lange über diese erbärmlichen Subjekte nachdenken? Das waren sie ja gar nicht wert. Das Rätsel lag woanders: Wie konnte es geschehen, dass ein ganzes Volk, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf diese Hitler-Clique und ihren Rassenwahn hereingefallen war? Wie hatten sich so viele Millionen Menschen solchen Massenmördern preisgeben und sich am Ende mehr oder weniger willig von ihnen in den Abgrund führen lassen können?
Er kannte all die Faschismus-Theorien, wusste alle Gründe, die für den Aufstieg und die zwölfjährige, zu jener Zeit von nur so wenigen ernsthaft infrage gestellte Herrschaft der Nazis verantwortlich gemacht wurden; kannte auch die Argumente, mit denen erklärt wurde, weshalb die übergroße Mehrheit so brav pariert hatte. An diesem Abend, in dieser Nacht sah er nur die kleine Hilde Friedländer vor sich, wie sie mit ihrer Elsa an der Brust auf dem Ozeandampfer stand, der sie immer weiter forttrug von ihren Eltern, und alle Antworten auf diese Fragen erschienen ihm viel zu theoretisch. Auch begann er, das Wort »Nazis« zu hassen. Es versteckte so viel, klang, als wären da irgendwelche Außerirdischen gekommen und hätten Deutschland vergewaltigt. – Nein, es waren nicht die
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