Auf der Sonnenseite - Roman
»Nazis«, die diesen furchtbaren Krieg mit zig Millionen Opfern vom Zaun gebrochen und sechs Millionen Juden ermordet hatten, es waren seine Landsleute!
Zurück von seiner Reise, quälte ihn die Frage, ob Hilde Friedländer die Einladung des Senats von Berlin denn nun angenommen hatte. Er wartete ab, bis ihre Reisezeit heran war, dann rief er das Melbourner Goethe-Institut an.
Der Institutsleiter wusste sofort, worum es ging. »Ja!«, rief er gut gelaunt ins Telefon. »Sie ist geflogen. Sie können sich gratulieren.«
Lenz war erleichtert, doch gratulierte er sich nicht. Er fragte sich nur, ob sie sich wohl bei ihm gemeldet hätte, wenn er noch in Berlin und nicht im Rhein-Main-Gebiet gelebt hätte. Wenn ja, hätte er sich sehr gefreut. So musste ihm der faustgroße, braune Stein auf seinem Schreibtisch genügen; gefunden am anderen Ende der Welt, Erinnerung an einen Spaziergang am Meer, den er weder vergessen wollte noch vergessen konnte.
Im Jahr darauf schickte ihn das Goethe-Institut nach Südamerika. Sechs Wochen Chile, Argentinien, Peru, Paraguay und Uruguay. Er stieg in Rio de Janeiro um – begrüßte den Zuckerhut nur vom Flugzeugfenster aus –, überflog die Anden und reiste per Flieger, Bus und Pkw von einem Goethe-Institut zum anderen. Wieder hielt er Vorträge, veranstaltete Lesungen und Schreibwerkstätten. Und musste sich manchmal ins Gedächtnis zurückrufen, in welchem Land er sich gerade befand.
In Santiago de Chile stand er lange vor dem Präsidentenpalast, in dem anderthalb Jahrzehnte zuvor noch Salvador Allende regiert hatte. Mit Hubschraubern war der Regierungssitz angegriffen und bombardiert worden, behelmt und mit der Maschinenpistole in der Hand hatte der Präsident der Republik, dem ein sozialistisches Wirtschaftsprogramm vorgeschwebt hatte, sich und seine Leute bis zum Letzten verteidigt. Die Einflugschneise zwischen den Häusern der großen Magistrale erinnerte noch immer an jenen Angriff aus der Luft.
Nichts war vorbei und vergessen. Viele Chilenen sahen die Hubschrauber noch immer fliegen. Und auch der Hass auf die Putschisten war noch nicht erloschen.
In Buenos Aires wohnte er in einem Hotel nahe der Plaza del Mayo, dem Platz vor dem Regierungssitz Casa Rosado. Hier hatten in den Jahren zuvor jene Mütter demonstriert, deren Söhne Anfang der Achtzigerjahre von der bis dahin mit brutaler Gewalt regierenden Militärdiktatur verschleppt worden und bisher nicht wieder aufgetaucht waren. Per Fernseher hatte er die Aktionen dieser mutigen, über Wochen und Monate hinweg demonstrierenden Frauen mitverfolgt. In Cordoba, während einer Abendlesung, kam es zu einem Gespräch über die verschwundenen Söhne der Mütter von der Plaza del Mayo.
Eine hagere, sehr ernst aussehende Frau wollte wissen, was er, der Deutsche, zu all diesen Morden zu sagen habe. Bevor jedoch der Dolmetscher diese Aufforderung zur Stellungnahme übersetzt hatte, sprang eine andere Frau auf, sehr gepflegt und gebildet wirkend, und empörte sich laut. Hier sollten doch nicht solche Schauermärchen verbreitet werden, es gebe keine verschwundenen oder ermordeten Söhne, das seien alles nur Lügen der Linken.
Wieder musste Lenz warten, bis der Dolmetscher übersetzt hatte. Inzwischen war ein Tumult ausgebrochen. Heftig prallten die Meinungen aufeinander, jeder versuchte, den anderen zu übertönen. Der Dolmetscher zuckte nur verlegen die Achseln, er kam nicht mehr mit.
Später, als nach Bitten der Institutsleitung wieder Ruhe eingekehrt war, sagte Lenz, dass er zwar keine direkten Einsichten in die wirklichen Verhältnisse Argentiniens habe, doch sehr wohl glaube, dass die Mütter auf der Plaza del Mayo nicht aus lauter Spaß am Protest so lange und ausdauernd demonstriert hätten. Nur gebe es eben manchmal so unvorstellbar grausame Realitäten, dass viele Menschen sich weigerten, sie zu akzeptieren. Diese Erfahrung habe man nach dem Krieg auch in Deutschland gemacht.
Eine Stellungnahme, die die Gemüter, bis auf einige mürrisch blickende und weiterhin sehr erregt diskutierende Männer und Frauen, einigermaßen beruhigte, ihn selbst aber nicht befriedigte. Er bezweifelte jene Morde nicht, doch was wusste er wirklich? Die modernen Medien informierten über alle Vorfälle rund um die Welt; tiefere Einsichten jedoch vermittelten sie nur dem, der alles vor Ort überprüfte. Wer in dieser so groß gewordenen, unfriedlichen Welt hatte dazu aber schon die Möglichkeit?
Er besuchte auch wieder Schulen. Eine davon lag in
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