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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Jahren, die sie in Berlin gelebt hatte, war diese Stadt auch die ihre geworden.
    Doch hatten sie warten müssen, bis erst Silke und dann Michael Abitur gemacht hatten und flügge geworden waren. Silke, inzwischen Buchhändlerin, war bei ihrem Freund im Rhein-Main-Gebiet geblieben, Micha leistete in Bremen seinen Zivildienst ab und wollte danach dort studieren. – Und Hannahs Vater lebte nicht mehr.
    Hans Henning Möller, der sich so gern selbst H. H. M. nannte, hatte einen langen Abschied von der Welt nehmen müssen. Ein Herzinfarkt hatte ihn niedergestreckt, doch war sein Herz zu stark, um ihn so einfach gehen zu lassen. Seine Frau, Fränze, Hannah, Silke, Micha und Lenz waren auf der Offenbacher Intensivstation schon jeder einzeln vor ihn hingetreten, um sich von ihm zu verabschieden, da schlug er tags darauf doch noch mal die Augen auf.
    Er erkannte sie alle, sie konnten mit ihm reden und nur einen Tag später wurde er auf eine normale Station zurückverlegt. Doch war er, wie sich bald herausstellte, bereits sehr verwirrt, erlebte Gegenwart und Vergangenheit gleichzeitig. Zwar fragte er, wenn sie ihn besuchten, wie es ihnen gehe, wusste um ihre Lebensumstände und reagierte auf alle Fragen ihrerseits sehr verständig, mitten im Gespräch aber wies er immer mal wieder ganz erschrocken in die von seinem Bett aus gesehen linke Zimmerecke und flüsterte mit geheimnisvollem Lächeln: »Jetzt schießen sie wieder! Hört ihr’s?«
    Fragten sie nach, erklärte er ihnen, dass da drüben eine Kompanie Russen lag, die ihn alle paar Minuten unter Feuer nahm. »Das ist kein Spaß, das könnt ihr mir glauben. Aber noch haben se mich nicht erwischt.«
    H. H. M. hatte nie viel über seine Kriegserlebnisse erzählt, jetzt, kurz vor seinem Tod, ließ sich das Erlebte nicht mehr verdrängen.
    Er wurde dann sogar noch einmal nach Hause entlassen und von seiner Frau gepflegt. Doch fantasierte er immer öfter und behauptete, seine Frau wolle ihn umbringen, weil er ihr zu viel Arbeit mache. Zum Schluss war sein Tod für alle eine Erlösung. Hannah jedoch, die ansonsten so liebevolle Hannah, konnte nicht weinen, als sie die Nachricht erreichte. H. H. M. hatte selbst dafür gesorgt, dass alles, was sie mal für ihn empfunden hatte, im Lauf der Jahre abgestorben war.
    Wie ein junges Paar, das ganz von vorn begann, zogen Hannah und Lenz nach Berlin. Ihre Möbel hatten sie Silke überlassen – in die neue Wohnung passten sie ohnehin nicht – und so verbrachten sie die ersten Wochen in ihrer neuen Behausung hoch über dem Reinickendorfer Schäfersee zwischen Bücherbergen und noch unausgepackten Kartons. Die übereinandergestapelten Schmöker und gesammelten Werke waren Tisch, Schrank und Kleiderablage.
    Er war heiter und er war interessant, dieser Neuanfang. Auf Entdeckungsreisen zogen sie durch die östlichen und westlichen Stadtteile, rannten in die Theater hier und da, in die Museen, Galerien und Konzerte.
    Alles lag in »Steinwurfweite«, sie hatten Zeit und sich und Lust auf Neues. Allein Stalin, bereits ein alter Herr von zehn Jahren, gefiel es nicht in der neuen Umgebung. Wo waren die Felder, über die er sich von anderen Hunden hetzen lassen konnte, wo die vertrauten Gegenstände und Gerüche? Die Sommer an der Nordsee mussten ihn entschädigen. Dort, unweit ihrer gemütlichen, kleinen Ferienwohnung, hatte er ein ganzes Naturschutzgebiet unter seiner diktatorischen Verwaltung.
    Ein schönes neues Leben für Lenz und auch für Hannah, die ihre Arbeit bei der Bank mit dem Umzug aufgegeben hatte und fest angestellte Mitarbeiterin und Teilhaberin der kleinen Romanfabrik Manfred Lenz & Co. geworden war. Partner im Leben und im Beruf, teilten sie Arbeit und Freizeit, Vergnügungen, Ärger und Sorgen.
    Oft, sehr oft fuhren sie mit der S- oder U-Bahn in den Ostteil der Stadt, allein um dort spazieren zu gehen. Dann überkam Lenz jedes Mal ein ganz unwirkliches Gefühl: Er, der »West-Besucher«, der durch seine Straßen schlenderte! Spielten Hannah und er denn nur in einem Film mit, den irgendwer mit ihnen drehte?
    Während ihrer häufigen Berlin-Besuche in den Jahren zuvor waren sie an der Grenze stets als »unerwünschte Personen« zurückgewiesen worden; sie hatten nach Prag reisen müssen, um Lenz’ Bruder Robert zu treffen. Jetzt waren sie wieder gelitten. Die Bürokraten hier glaubten wohl, die alten Freundschaften, die man unterbrechen wollte, um neue Fluchtwünsche bereits im Keim zu ersticken, seien inzwischen erloschen. Was

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