Auf der Sonnenseite - Roman
in ihr Bier. »Nein, nichts wird sich bewegen, solange wir uns nicht bewegen. Nur sind mein Peter und ich dazu inzwischen ’n bisschen zu alt. Da bleibt uns nur, auf die Jugend zu hoffen.«
Braun nickte still und trank mit einem Zug sein noch drei viertel volles Glas aus. Dann sah er Lenz lange an, pochte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und sagte streng: »Sozialismus ohne wahre Demokratie ist kein Sozialismus. Punkt! Andererseits – und das solltet ihr Westler nie vergessen –, ’ne Demokratie, die nicht wahrhaft sozial ist, ist keine echte Demokratie. Noch ’n Punkt!«
Punkte, die Lenz’ Beifall fanden. Doch wenn Braun so voller Heftigkeit verkündete, was er, Lenz, als Weggegangener dachte, wie hielt er, der Daheimgebliebene, es aus, solche Punkte zu setzen und ganz anders leben und arbeiten zu müssen? Eine Frage, die ihn schon lange bewegte, die er aber noch keinem seiner DDR-Kollegen gestellt hatte. Weil er sie als taktlos empfand. An jenem Abend der deutlichen Wahrheiten erschien sie ihm gestattet.
Braun hob die Arme – und ließ sie wieder sinken. »Ja – wie? Geht eben nur, wenn du resignierst … Gibt kein anderes Wort dafür. Wer sich mit der existierenden Wirklichkeit zufriedengibt, egal ob freiwillig oder unfreiwillig, der hat resigniert … und ist damit irgendwie tot. Weil er sich ja nicht mehr aus eigenem Antrieb bewegt … Manche sind ja schon so steif, die können nicht mal mehr den Kopf schütteln. Nur noch nicken können se. Und so nicken wir denn, nicken und nicken … « Er seufzte. »Riskieren oder resignieren, das ist hier die Frage! Aber was willste machen, der eine taugt zum Dissidenten, der andere eben nicht. Basta!«
Ein Weilchen schwiegen sie, weil Lenz nicht wusste, was er darauf antworten sollte, dann brachte Braun ein Zitat von Schiller: »›Nur was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie!‹ – Eine Binsenweisheit, die uns auch nicht weiterhilft. Kannst es drehen und wenden, wie du willst, am Ende landest du immer bei derselben Frage: Bleiben oder fortgehen? Fortgehen aber kommt für so ’n altes Eselsgespann wie Gerda und mich nicht mehr infrage. Wir können nur zu Hause sein, wo unser Stall steht – der mit der Futterkrippe … Aber es tut weh, Manne, es tut weh, zu sehen, wie das Ideal, für das man mal stritt, immer mehr zu dem verkommt, was man von Jugend an gehasst hat.«
Wieder schwiegen sie, dann wollte Gerda Braun noch ein bisschen mehr über das Leben in der Bundesrepublik wissen. »Und?«, fragte sie Lenz. »Wie fühlt man sich so als Autor, der alles schreiben darf, wenn es nur dem Markt gefällt?«
Gelegenheit für Lenz, in einen scherzhaften Ton zu verfallen, um die Stimmung wieder ein wenig aufzuhellen, und so zitierte er grinsend den anderen deutschen Großmeister: »›Das Wort Freiheit klingt so schön, dass man es nicht entbehren könnte – und wenn es einen Irrtum bezeichnete!‹«
Braun blieb ernst. »Nett, so ein Gejammer auf hohem Niveau!« Und mit trauriger Miene verriet er Lenz, dass er in seinem nun schon ziemlich langen Leben eine Faustregel für sich entdeckt habe, von der er überzeugt sei, dass sie stimmt. »Wie viel Freiheit du hast, Manne, lässt sich ablesen an der Zahl der Lippenbekenntnisse, die du ableisten musst. Das ist so und wird so bleiben.«
Ein bitteres Wort für einen, der dort lebte, wo Braun herkam. Doch nicht für Lenz. Irgendwelche Lippenbekenntnisse wurden ihm nicht abverlangt, er durfte schreiben und sagen, was er wollte. Im Gegensatz zu Hannah dürfte er sogar eine Stoppt Strauß -, Stoppt Kohl -, Stoppt die SPD - oder Stoppt die FDP -Plakette tragen. Weil er damit ja keinen Arbeitsfrieden störte.
4. Nachts auf’m Kudamm
S ommer 88. Lenz zog es nach Berlin zurück. In den westlichen Teil seiner Heimatstadt. Eine Reporterin der Berliner Abendschau wollte den Grund für diese »Heimkehr« nach fünfzehn Jahren wissen; seine kurze Antwort: »Heimweh.«
West- oder OstBerlin, er gehörte nirgendwo anders hin. Bis zu seinem achtzehnten Geburtstag, dem Jahr, als die DDR-Zaunkönige sich und ihr ganzes Volk hinter einem »antifaschistischen Schutzwall« verschanzten, hatte er beide Stadthälften für sich gehabt und die Stadt trotz aller gewaltsam gezogenen Trennlinien immer als eine und als seine Stadt betrachtet. Eine Bindung, die niemand so einfach kappen konnte, kein Staat und keine Zeit. Hannah, obwohl in Frankfurt am Main aufgewachsen, dachte und fühlte nicht anders. In den vielen
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