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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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für ein Irrtum! Es gab kein Vergessen und Entfremden; wirkliche Freundschaften währten lange. Und mit dem westdeutschen Pass, den sie, die »Neu-WestBerliner«, ja noch immer besaßen, konnten sie, wenn sie wollten, von einem Moment auf den anderen in den Osten hinüberfahren. WestBerliner ohne westdeutschen Pass mussten erst ein Visum beantragen, und das Tage vorher.
    Die stinkenden Trabants und Wartburgs und krachenden Lastwagen! Der vertraute Geruch nach Braunkohle! Die roten Spruchbänder mit den längst sinnentleerten Parolen! Die langweiligen Reklameschriften! Es hatte sich nicht viel verändert in ihrer alten Heimat. Die Straßen voller Schlaglöcher, die Häuser mit noch mehr Blatternarben und inzwischen schon sehr weit fortgeschrittene Karies; Balkone, die aussahen, als würden sie jeden Moment herabstürzen … Alles wie damals, nur noch viel schlimmer.
    Das Alte, das jede Stadt unverwechselbar und vielleicht sogar liebenswert macht, es war dem Verfall preisgegeben. Neue Wohnviertel hatte man aus dem Boden gestampft – gleichförmige, »sozialistische« Straßenschluchten. Arbeiterwohnregale!
    Eine Kostenfrage? Natürlich! Doch welcher Staat konnte es sich leisten, seine traditionellen Wohnviertel verrotten zu lassen?
    Wer jung war und Kinder hatte, war längst in eine dieser Neubauwohnungen mit fließend heißem und kaltem Wasser umgezogen; die vielen Alten, die in den unsanierten Bauten aus der Kaiserzeit zurückgeblieben waren, dazu jene Freaks und Lyriker, die das Kaputte und Morbide liebten, verstärkten den Eindruck des Dahinsiechens nur.
    Es gab auch im Westen der Stadt »Wohnregale« und heruntergekommene Straßenzüge, doch waren dort die alten Viertel nicht tot, sondern oft sehr heftig von alternativem Leben geprägt. Junge Leute aus allen Teilen der Bundesrepublik hatten sie für sich erobert. Sei es, weil in Berlin wohnende junge Männer aufgrund des Viermächteabkommens weder Wehrpflicht noch Zivildienst ableisten mussten oder weil dieses kunterbunte WestBerlin, in dem es keine Sperrstunde gab, ihnen eine spannende, aufregende Zeit versprach. – Der Prenzlauer Berg, Lenz’ Heimatkiez, dämmerte müde, grau und vergessen vor sich hin.
    Prenzlauer Allee 189, Ecke Raumerstraße. Hier, in der Eckkneipe seiner Mutter, war Lenz aufgewachsen. In seiner Kindheit war es ein ganz normales, sauberes Wohnhaus, jetzt sah es verkommen, heruntergewirtschaftet aus. Auf dem Hof stand noch die alte Teppichklopfstange, in dem Putz gleich neben der Kellertür, vor Regen und Wind geschützt, waren noch immer die mit einem Nagel eingeritzten und mit Kreide nachgezogenen drei Wörter zu lesen: Manni ist doof.
    Das galt ihm. Irgendein Junge oder Mädchen hatte ihn damals, vor fünfunddreißig Jahren, auf diese Weise ärgern wollen. Zärtlich strich er mit den Fingern über diese Inschrift; ein Gruß aus der Vergangenheit.
    Die Teppichklopfstange war einst ihr Turngerät gewesen, auf dem Hofpflaster gleich neben der Kellertür hatten sie als ganz kleine Krümel Hochzeit gespielt. Im dritten Stock des Hinterhauses hatte der lange Alf Bohm gewohnt, der dem kleinen Manni so gern seine elektrische Eisenbahn vorführte, schräg gegenüber, im Vorderhaus, wohnten Uhlenbuschs, in der Wohnung darunter der junge, kräftige Stuckateurgeselle Johnny Kleppinger. Alle waren sie eines Tages in den Westen »verblüht«, so wie auch die Fleischerfamilie Möckel mitsamt der schon sehr alten Großmutter, die den kleinen Kneipensohn so gern »Biermann« gerufen hatte. Ihre Enkel, die sommersprossigen Zwillinge Hans und Helmut, waren immer die Anführer gewesen bei den Streichen der Kinder aus der Straße.
    Das Fenster, hinter dem einst die Küche lag, die zur kleinen Schneiderwerkstatt von Maxe Rosenzweig gehörte, war vor Schmutz erblindet. Die Räume, inzwischen zur Wohnung umfunktioniert, waren unbewohnt. Und Maxe, der kleine Jude, der sich während der letzten drei Nazi-Jahre im Keller versteckt hatte und dort von seiner genauso kleinen nichtjüdischen Frau versorgt wurde, war nun schon seit dreißig Jahren tot … Aber all die anderen, die Jüngeren, die einst hier gewohnt hatten, wo hatte es sie inzwischen hingeweht? Johnny Kleppinger, so hieß es, sei gleich bis nach Australien ausgerissen …
    Lenz stand da, hielt Hannahs Hand und spürte seinen Gefühlen nach.
    War das so etwas wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes? Nickten die grauen Wände und all die Fenster hier ihm freundlich zu? Oder blickte all das Vertraute ihn

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