Auf der Sonnenseite - Roman
nicht viel eher abweisend an? Als ob es ihn nicht wiedererkennen wollte oder ihm übel nahm, dass er fortgegangen war und hier alles verfallen lassen hatte. Vielleicht glaubte dieser so schäbig wirkende Hinterhof ja, dass alle die, die hier einmal gewohnt, auf seinem Pflaster gespielt und auf der Teppichklopfstange Turnübungen und Debattierrunden veranstaltet hatten, hätten hierbleiben müssen. Um das Haus vor dem Verfall zu bewahren. Vielleicht hielten diese tristen Fassaden und traurig dreinschauenden Fenster es ja für möglich, dass sie eine Chance gehabt hätten.
Doch nein, sie hätten keine Chance gehabt, da war er sich sicher. Jenes Gefühl aber, etwas, das zu ihm gehörte, im Stich gelassen zu haben, es ließ ihn den ganzen Tag nicht los.
Ein andermal fuhren sie nach Schöneweide und umrundeten das im Wald gelegene Kinderheim, in das Lenz nach dem Tod der Mutter gekommen war. Damals hieß es Kinderheim Königsheide – ein schöner, warmer Name, der nicht so recht zu dem militärischen Drill passte, mit dem sie erzogen werden sollten –, inzwischen war es nach A. S. Makarenko benannt, einem sowjetischen Pädagogen. Kriegswaisen und Kinder von Westflüchtlingen oder von Botschaftsangestellten waren jedoch nicht mehr hier untergebracht, es diente nun sonderpädagogischen Zwecken.
Lenz hätte gern die alten Räume wiedergesehen, doch ließ der Pförtner sie nicht hinein. Er hatte seine Anweisungen und befolgte sie. So fuhren Hannah und er weiter. Von der Königsheide bis zur Insel der Jugend war es ja nicht weit, dem zweiten Heim, in dem Lenz untergebracht war, bis er, mit achtzehn volljährig geworden, in den Prenzlauer Berg zurückziehen durfte. Um dort eine kleine, kalte Einzimmerwohnung im dritten Hinterhof eines schon sehr alten, völlig heruntergekommenen Mietshauses zu bewohnen, in dem zu jener Zeit aber viele sehr originelle, ihm sympathische Menschen lebten.
Siebenundzwanzig Jahre waren vergangen, seit er das letzte Mal die hohe, bogenförmige stählerne Abteibrücke über der Spree überquert hatte, die das »Festland« mit der kleinen, dem berühmten Café Zenner gegenüberliegenden Insel verband. Schöne und unerfreuliche Erinnerungen bedrängten ihn. Wie gut, dass Hannah neben ihm ging. Dreißig Jungen hatten damals hier gelebt, alle zwischen fünfzehn und achtzehn. Sie hatten sich ihr eigenes Paddelboot gebaut – die Mistbiene –, Volleyball und Fußball gespielt und waren oft im nahe gelegenen WestBerlin ins Kino gegangen. Mit einigen der Jungen war er befreundet gewesen, mit anderen, vor allem aber mit dem Heimleiter, einem ehemaligen Polizeimajor, war er nicht klargekommen. An seinem achtzehnten Geburtstag, dem Tag seiner Volljährigkeit, hatte er seinen Rausschmiss provoziert …
In dem hufeisenförmigen, einstöckigen Gebäude lebten nun keine Jungen mehr; ein Lehrlingswohnheim für Mädchen war daraus geworden. Lange sah Lenz zu dem kleinen Fenster hoch, hinter dem das Zweierzimmer lag, das Ete Kern und er ein gutes Jahr miteinander geteilt hatten. Ete und er, von der Königsheide bis zur Insel, vier Jahre lang waren sie die besten Freunde gewesen … Wenn Ete nun nicht gleich nach dem Mauerbau und wenn auch Hanne Gottlieb nicht kurz darauf in den Westen geflohen wäre und sie zwölf Jahre lang ohne jeden Kontakt zueinander geblieben wären, wie wäre es dann weitergegangen? Ob ihre Freundschaft dann noch Bestand hätte?
»Nein!«, sagte Hannah. »Nach allem, was du mir erzählt hast, seid ihr vorher schon grundverschieden gewesen.«
Sie hatte wohl recht. Der Beweis dafür: Es gab andere, früher oder später geschlossene Freundschaften, die gehalten hatten. Eine davon war die zu Monika und Wolf.
Waren einmal zwei junge Frauen, die eine blond, die andere dunkelbraun. Sie arbeiteten in derselben Firma, saßen in einem Zimmer zusammen, lernten etwa zur gleichen Zeit ihre späteren Männer kennen und übten gemeinsam, ihre zukünftigen Nachnamen in besonders schwungvolle Unterschriften umzusetzen. Zur Freude der Firma, wenn auch nur rein zufällig, stimmten sie sogar ihre Schwangerschaften miteinander ab, sodass die dunkelbraune Hannah genau an dem Tag aus dem Schwangerschaftsurlaub zurückkehrte, als die blonde Monika ihren antrat. Später wohnte man im selben Neubauviertel, machte sich gegenseitig Besuche und tauschte Babywäsche aus.
Eine Freundschaft, die erst zu Ende ging, als Lenz und Hannah die Flucht planten. Es fiel Hannah schwer, doch durfte sie Moni nicht in ihr
Weitere Kostenlose Bücher