Auf der Sonnenseite - Roman
verbiestert-strengen Grenzkontrolleure und die trostlosen Treffen mit einigen eurer gut vorbereiteten Jugendlichen haben ihn, den sonst eher unaufgeregten, ruhigen Jungen, so geärgert, dass er zwei eurer Fahnen runtergerissen und sie als Trophäe mit nach Hause gebracht hat. Er konnte einfach nicht anders, musste sich abreagieren. Und zu meiner Frau und mir hat er gesagt: ›Was ist das da drüben bloß für ’n Löwenkäfig! Hättet ihr da nicht gesessen, hätte ich dort sitzen müssen.‹«
Braun fühlte sich nicht verunglimpft, fragte nur ganz sachlich: »Welche Fahnen denn?«
»Das heilige blaue Tuch der FDJ und die noch heiligere Staatsflagge mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz. Sie hingen zufällig beide in Griffhöhe. Mein Micha ist jetzt schon einsachtzig.«
Da nickte Braun mehrmals, kratzte sich den Bart, trank von seinem Bier und nickte nochmals. »Tja, das hätten viele unserer Jugendlichen auch getan – wenn sie sich denn unbeobachtet gefühlt hätten … Ist ja unser größtes Problem: Es ist unmöglich, jemanden gewaltsam zu einem Glauben zu bekehren! Bestenfalls bringste ihn dazu, irgendwelche Rituale zu befolgen. Das aber funktioniert nur, solange du ihn unter Kontrolle hast.«
Nach Lenz’ Meinung bewies Michas Aktion aber noch etwas anderes: das langsame, aber stetige Auseinanderdriften der Menschen in den beiden deutschen Staaten. Michas Freunde hatten gejohlt, als sie die Flaggen des Staates in ihren Händen hielten, in dem sie sich nicht wohlfühlten. Warum? Weil sie während ihres Dresdener Aufenthalts eine gewisse Grundfurcht einfach nicht loswurden. An jeder Straßenecke spürten sie: Dieser Staat versteht keinen Spaß! »Ist es da ein Wunder, wenn sie sich in London oder Paris mehr zu Hause fühlen als in Dresden, Leipzig oder OstBerlin?«
Peter und Gerda Braun verstanden seine Sorge, doch irgendeine Hoffnung auf Änderung der Verhältnisse hatten sie nicht.
»Wir werden von Betonköpfen regiert, die zudem auch noch blind sind«, sagte Gerda Braun und seufzte. »Aber vielleicht wächst ja auch bei uns ganz im Geheimen so ’n kleiner Gorbatschow heran. Wäre ich gläubig, würde ich den lieben Gott darum bitten.«
Die kräftige, schlicht gekleidete, schon sehr grauhaarige Frau lachte, und Lenz hatte das Gefühl, dass ihm da zwei gegenübersaßen, die sich trotz allem ihre eigene, ganz persönliche Freiheit bewahrt hatten.
Am Abend darauf brachte Gerda Braun ein Lyrikbändchen mit, das sie in Bremen erstanden und in der Nacht zuvor gelesen hatte. Die Autorin, Mascha Kaléko, wurde in der DDR kaum verlegt, deshalb waren ihre heiter-besinnlichen, manchmal aber auch frech herausfordernden Texte für sie eine Neuentdeckung. Ihrem Mann hatte sie einen Vers angestrichen, den sie jetzt auch Lenz zeigte:
Doch nun, als Mensch, im Hauptberuf Poet,
Erleb ich, was kein Vogelhirn versteht,
So völlig unbekannt in der Natur
Ist jener Käfig, den man nennt »Zensur«.
Dies darfst du nicht singen und jenes nicht sagen,
Und für das musst du erst um Genehmigung fragen.
Und kratzt man sich ehrlich,
Wo’s jedermann juckt,
Das ist staatsgefährlich
Und wird nicht gedruckt.
Braun: »Da hast du’s! Ein Text, geschrieben vor über fünfzig Jahren, also in jener Zeit, über die wir uns so gern entsetzen – und für unsereins so aktuell, dass er viehisch wehtut!«
Was sollte Lenz dazu sagen? Weil er so nicht leben wollte und erst recht nicht schreiben konnte, war er gegangen.
Gerda Braun spürte seine Verlegenheit und wechselte das Thema. Sie wollte wissen, worin er, der inzwischen doch beide deutsche Staaten gut kannte, den Hauptunterschied zwischen Ost und West sah. Mal abgesehen davon, dass er im Westen veröffentlichen durfte, was im Osten der Zensur zum Opfer gefallen wäre.
Lenz’ Antwort: »In der DDR wurde ich gelebt, hier lebe ich in eigener Regie – und auf eigenes Risiko. Falle ich auf die Schnauze, hebt mich keiner auf. Dafür stößt mich aber auch keiner in eine Richtung, in die ich nicht will.« Er grinste. »Im Westen darf jeder sein eigener Besserwisser sein.«
Und politische Einschränkungen, gab’s die nicht? »Ich meine, außerhalb deines Schreibens«, fragte Gerda Braun.
Doch, die gab’s. Im 78er Wahlkampf hatte Hannah eine Stoppt-Strauß -Plakette am Jackenaufschlag getragen. Der bullige, nackenlose bayerische Kraftpolitiker, der bereits Mitte der Sechzigerjahre einen Schlussstrich unter die unselige deutsche Vergangenheit ziehen wollte und sich in seinem
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