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Auf der Sonnenseite - Roman

Auf der Sonnenseite - Roman

Titel: Auf der Sonnenseite - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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keinerlei Hoffnung. Im Gegenteil, sie befürchteten, dass alles noch viel schlimmer kommen würde, liefen der DDR doch inzwischen immer mehr Leute weg. Die berühmte Schlussakte der KSZE von Helsinki, von Honecker unterzeichnet und unter anderem die humanitären Prinzipien von Reisegenehmigungen regelnd, erlaubte ja nun ganz offiziell, Ausreiseanträge zu stellen. Zwar hängte der Staat das nicht an die große Glocke, aber das Volk, »unterwandert« vom Westfernsehen, wusste Bescheid. Weshalb Monat für Monat mehr Ausreiseanträge gestellt wurden. Und wurde ein Antrag nicht genehmigt, so wurde er eben wiederholt, von vielen so oft, bis sie endlich doch ausreisen durften, egal welche beruflichen Nachteile und Repressalien sie dafür in Kauf nehmen mussten.
    Monika und Wolf gestanden, diesen Schritt ebenfalls erwogen zu haben. Doch hätte Wolf in diesem Fall für lange Zeit seinen Doktorhut an den Nagel hängen müssen. Bestenfalls auf dem Bau hätte er noch arbeiten dürfen oder bei der Müllabfuhr. Eine Konsequenz, die ihm, Wissenschaftler mit Leib und Seele, undenkbar erschien. »Hast ja nur ein Leben. Wer gibt dir die verlorenen Jahre zurück?«
    Einziger Lichtblick für alle, die nicht ausreisen wollten: die neue, ein wenig großzügigere Besuchsreisen-Regelung, mit der die Ausreisewelle gestoppt werden sollte. Bereits die Silberhochzeit einer erfundenen Tante reichte mit einem Mal aus, um mal ein wenig Westluft schnuppern zu dürfen. Ehepartner allerdings durften nach wie vor nur getrennt reisen; und die Kinder mussten auch zu Hause bleiben.
    »Ohne Geisel kein Reisel«, kalauerte Monika. Ihrer Meinung nach war das Ganze nichts als der hilflose Versuch eines Befreiungsschlages, der immer mehr zum Selbsttor wurde. »Kriegt ja jeder, der im Westen war, all die Unterschiede mit. Sieht den Lebensstandard, erfährt von ungeahnten Reisemöglichkeiten, liest die freie Presse und hat danach noch lange den Duft der großen, weiten Welt in der Nase. Kein Wunder, wenn der lebenslange Verzicht auf all diese Freiheiten und Möglichkeiten unsere sozialistische Moral zukünftig noch viel stärker unterminiert. Der Duft alleine reicht eben nicht. Man will auch mal davon kosten dürfen.«
    Auch Lenz fand Freunde wieder. Sehr frühe Freunde; Kindheitsfreunde! In den Ruinen des Zweiten Weltkrieges hatten sie zusammen gespielt, die vaterlosen Jungen Harry Ruge, Heinzie Becker und Manni Lenz, und sich später aus den Augen verloren. Und auch in diesem Fall hatte der Rundfunk seine Vermittlerrolle gespielt und ein hilfsbereiter WestBerliner im Telefonbuch nachgeschlagen, um Lenz’ Adresse zu ermitteln.
    Voller Neugier fuhr er in den Prenzlauer Berg, wo Heinzie, der über eines von Lenz’ Hörspielen auf seine Spur gekommen war, noch immer wohnte, und wurde nicht enttäuscht. Lenz’ Mutter hatte den hübschen, schwarzhaarigen, immer so höflichen Heinz Becker, aus dem inzwischen ein dicklicher, noch immer höflicher, bekennender Homosexueller geworden war, einst sehr gemocht. Und Heinzie hatte die stets so freundliche Kneipenwirtin gemocht. So konnte man gut in Erinnerungen schwelgen. Auch war Lenz’ früh verstorbener Bruder Wolfgang lange in Heinzies Schwester verliebt gewesen, hatte sie geneckt und gefoppt. Gab es noch jemanden, mit dem der groß gewordene Manni solche Gespräche hätte führen können?
    Es gab Harry Ruge. Über Heinzie Becker erfuhr er von Lenz’ Wiederauftauchen, zu einem Dreiertreffen aber kam es erst, als beide, Heinzie und Harry, einen vorgetäuschten Verwandtenbesuch nutzend, sich in den Westen abgesetzt hatten. Da okkupierten sie dann eine ganze Nacht lang bei Joe am Kudamm einen Stehtisch, tranken ein Bier nach dem anderen, aßen scharf gewürzte Currywürste und ließen ihre Kindheit wieder aufleben. Für Lenz, Jüngster im Bunde, besonders interessant: Was wussten die beiden Älteren über ihn, was er längst vergessen hatte?
    Er erfuhr, dass er als kleiner Junge Hummeln mit der Hand gefangen hatte und einmal, während der Weltfestspiele 1951, da war er acht, in einem »Wigwam« von gegeneinandergestellten, langstieligen Fackeln, die am Abend angezündet werden sollten, eine Zigarette geraucht hatte. Wie leicht hätte es seine letzte sein können!
    Heinzie, wie immer ganz in Schwarz – breitkrempiger schwarzer Hut, schwarzer Anzug, schwarzes Hemd, schwarze Socken, schwarze Schuhe –, erzählte von seiner Zeit als DDR-Schwuler. »Immer verstecken! Ewig verfolgt! Und hier? Wenn ick die Paare Hand in

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