Auf der Straße nach Oodnadatta
Zeichen der Hoffnung, als ein Symbol all dessen, was im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts glänzend und gut war. Soziologen nannten ihn stets die Quelle der ganzen Veränderungen, welche die herkömmliche Struktur der postindustriellen Gesellschaft zerstört hatten. Die meisten Menschen, dachte Kate, würden zustimmen, dass ein solcher Genius am Leben erhalten werden müsse, gleichgültig, wie hoch der moralische Preis dafür war und gleichgültig, ob aus der Person mit dem Namen Mike Abbotson ein völlig anderes Individuum werden würde. Die Welt brauchte ihn mehr denn je – so ähnlich hatte die New York Times in einem Leitartikel zwei Tage nach Mike Abbotsons Schlaganfall geschrieben. Die Welt brauchte seinen Genius, um in das neue Zeitalter zu gelangen, um sicher zu gehen, dass das Versprechen, das seine Errungenschaften enthielten, nicht von der Gier, der Indifferenz und dem Mangel an Phantasie hinweggeschwemmt wurde, die sie im Augenblick heimsuchten.
»Sag mir, Vater«, flüsterte Kate, die Schläuche und Kabel ignorierend, und legte ihre Wange an seine. »Hast du einen großen Plan für das alles? Du hast immer über das Versprechen einer Gesellschaft frei von der Verpflichtung zur Arbeit geschwafelt, einer Gesellschaft, die ihr Brot nicht mehr im Schweiße ihres Angesichts verdienen muss. Aber als du das elend billige, wirklich universelle elektronische Medizinsystem entwickelt hast, als du die Notwendigkeit abgeschafft hast, Lehrer in den Bildungseinrichtungen zu beschäftigen, als du jeden Aspekt der Landwirtschaft automatisiert hast, hat die Tatsache, dass alle diese Dienstleistungen billiger geworden sind, irgendjemand anderem genutzt als dir selbst? Das war doch alles nur kapitalistisches Geschwätz, stimmt’s? Was für eine Art Genius soll das also sein? Ein Genius, der um jeden Preis der Welt erhalten werden muss? Ein Genius, ohne den die Welt nicht leben kann? Tut mir Leid, Vater, das kauf ich dir nicht ab.« Seine Wange fühlte sich warm und lebendig an ihrer Wange an. Aber sie konnte ihn dabei nicht spüren, nicht hinter die schlaffe Maske seines Gesichts horchen. Kate setzte sich und zog ein Taschentuch heraus, um sich die Nase zu putzen und die Tränen abzuwischen. »Dich liebe ich, Vater, nicht deinen Genius. Das ist nämlich ein Unterschied. Ein großer, großer Unterschied. Für mich wenigstens.« Bei dem Gedanken daran, wie sich ihr Vater in einen Fremden verwandelte, mit dem sie nichts gemeinsam hatte außer einer genetischen Verwandtschaft, verkrampften sich ihre Eingeweide.
Und doch bedeuteten für ihn anscheinend genetische Verwandtschaften alles. Moral, Ethik und Liebe hatten keinen Platz in seiner Vision. Wenn Kate auch nicht die Werte ihrer Mutter teilte, so besaß sie doch auch welche. Menschen, sagte ihr Vater immer, konnten per definitionem ihre Menschlichkeit nicht verraten. Alles was sie taten, war »menschlich«. Und jeder, der abstritt, dass Krieg, Töten und sogar Völkermord menschlich war, betrog sich selber. Oh, was hatten sie beide darüber gestritten, sie und er, Vater und Tochter. Und jetzt, mit der Wärme seiner Wange an ihrer, hörte sie plötzlich eine Stimme in ihrem Innern – die Stimme, die zu ihr im Gewölbe gesprochen hatte, die Stimme des Bildes auf der Disk, eine Stimme, die – sie konnte sich nicht vorstellen wie – aus diesem Mund gekommen war, der nun selbst der Fähigkeit zum Flüstern beraubt war – eine Stimme, die nur hinterrücks an seine erinnerte und sie beschuldigte, neidisch zu sein, weil ihr die Trauben zu hoch hingen. Du meinst wohl, ich sollte zufrieden mit den Dingen sein, wie sie sind, zufrieden damit, eine so mir zugetane Tochter zu haben, wie du es bist. Aber die Tatsache, dass du das denkst, beweist doch nur deine Mängel und dass du einfach beleidigt bist, weil ich mir wünsche, dass mein Genius unsterblich wird. Damit hast du deine Schwäche bewiesen, mein Kind. Kates Augen quollen über vor heißen Tränen, die sich salzig und nass zwischen ihrem Gesicht und dem ihres Vaters sammelten. »Du hast unrecht, Vater«, flüsterte sie mit gebrochener Stimme in sein Ohr. »Tief in mir drinnen weiß ich, dass du unrecht hast! Warum musst du Menschen immer lächerlich machen, die aus moralischen Gründen handeln? Du bittest mich, kaltschnäuzig den Grundstock des Lebens – und individuelles Leben – auszubeuten, für ein kaltes, instrumentales Experiment, dessen Ausgang bestenfalls ungewiss ist. Ich würde ohne Zögern jedes Kind
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