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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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von dir, das du hinterlassen hättest, aufziehen, es mit der ganzen Liebe überschütten, die ich für dich empfinde. Aber einfach eine Ansammlung Zellen für deine höheren Gehirnfunktionen erzeugen? Mein Gott, Vater! Es stößt mich ab, dass du nicht einmal dich selbst liebst, dein eigenes, unverwechselbares Ich, die Person, die du bist und die Beziehungen, die dich dazu gemacht haben, dass du nichts höher schätzt als die Zellen, die deine höheren Hirnfunktionen steuern? Hör auf, mich mit deiner Liebe zu dir zu erpressen! Weil ich niemals, darauf kannst du dich verlassen, niemals etwas so Schreckliches, Verwerfliches tun werde!«
    Sie setzte sich auf, wischte sich das Gesicht ab und putzte sich die Nase. Zum ersten Mal im Leben wünschte sie sich, einer Religion anzuhängen, so unbeirrt, wie ihre Mutter es tat. Dann wäre die Situation klar, die Entscheidung nicht die ihre. Durch Tränen starrte sie auf ihres Vaters Gesicht. Er würde sagen, sie habe keine Entscheidung zu treffen, denn er habe diese bereits selbst getroffen, während ihre Mutter sagen würde, dass keine anständige Person Teil seiner monströsen Selbstsucht werden könne. Doch Kate fühlte sich schuldig wie eine Verräterin. Was immer sie auch tat, irgendjemand würde es für falsch halten. »Komm, Vater, wach auf«, schluchzte sie zu der reglosen Gestalt hin. »Ich will dich nicht verlieren!« Denn falls er nicht aufwachte, würde sie ihn verlieren, gleichgültig, welche Entscheidung sie traf.
     
    Kates Besessenheit, am Bett ihres Vaters zu sitzen, wuchs derart, dass sie sich ein Zimmer geben ließ, in dem sie schlafen konnte, damit sie nicht mehr aus dem Krankenhaus nach Hause gehen musste. Zwar wurde die meiste Pflege von Maschinen erledigt, aber sie bat das Pflegepersonal, ihr die Krankengymnastik zu zeigen und wie man die Muskeln massierte. »Vater, ich bin hier«, sagte sie alle paar Minuten. Sie war wütend und peinlich berührt, als sie hörte, dass die Medien um ihren Rund-um-die-Uhr-Aufenthalt im Krankenhaus einen Riesenwirbel veranstalteten. »KATE VERZWEIFELT UND VON SCHMERZ GEPEINIGT« titelte ein Revolverblatt, »LADY GODIVA STEHT IM REGEN« ein anderes, einen Zusammenhang zwischen Kates Umzug ins Krankenhaus und Godivas »Exil« andeutend. Godiva sagte Kate am Telefon, der Hauptgrund, weshalb sie nicht zu Besuch käme, sei der Medienrummel. Am Bett ihres Vaters sitzend dachte Kate über das kurze Verhältnis zwischen Godiva und ihrem Vater nach und malte sich aus, die beiden hätten vor seinem Schlaganfall geheiratet, und er hätte ihr das ganze Problem mit dem Regenerationsprojekt auf die Schultern geladen. Was würde Lady Godiva in einer solchen Situation tun? Sicher würde jeder, der eine mehr persönliche als geschäftliche Beziehung zu ihrem Vater hatte, zögern, einen Fremden an seine Stelle zu setzen. Man musste sich das mal vorstellen – jemanden zu heiraten und plötzlich im Ehebett neben sich einen ganz anderen vorzufinden, eine Art zum Kind zurückentwickelter Erwachsener. Das Einzige, was dann noch blieb, war Scheidung. Der Fremde würde nicht die Gefühle seines Vorgängers für seine Gattin aufbringen, und die Gattin würde verzweifelt und wütend über den Verlust der Liebe des Vorgängers und seines ganzen Selbst sein.
    Töchter indes konnten sich nicht von ihren Vätern scheiden lassen, selbst wenn diese zu Fremden wurden. Kate würde wahrscheinlich eine Art Mutter für ihn werden, ältere Schwester oder Gouvernante. Er würde sich nicht mehr an die vielen Bergwanderungen mit ihr erinnern, nicht daran, wie sie mit ihm Schnee geschaufelt hatte, als sie acht Jahre alt war oder an die zwanzig Geburtstage und ihren Wert in Krawatten, die sie ihm über die Jahre geschenkt hatte und die immer noch ungetragen in seinem Schrank hingen, weil er niemals diese Art Krawatten trug, genauso wenig wie Anzüge.
    »Hier ist mein Platz, hier gehöre ich hin«, entgegnete sie, wenn irgendeiner sie dazu überreden wollte, das Krankenhaus zu verlassen, um »Luft zu schnappen« oder »mal was anderes zu sehen«. Jeff und Joel glaubten, dass Kates Besuch im Haus ihres Vaters ihr die Situation richtig deutlich gemacht hatte und dass ihre Wache am Krankenbett ein Versuch war, die Realität zu verleugnen. Jeder der beiden versuchte ihr das auf seine Weise zu erklären, als ob es, laut ausgesprochen, ihr die Erlaubnis geben würde zu gehen. »Er kann immer noch das Bewusstsein wiedererlangen«, erwiderte Kate dann. »Die Ärzte haben die

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