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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Dunkelheit der Berge im Westen verschwand. Ich sah die Spiegelung des Lichts in seinen Augen. Es dauerte lange, bis sie verging.
    Eine ganze Weile, nachdem das Ding über uns hinweggezogen war, wusste keiner so recht, was zu tun sei. Alle hatten Angst, waren jedoch gleichzeitig erleichtert, weil es – wie der Todesengel – über Gichichi hinweggegangen war. Immer noch weinten Leute, aber Tränen der Erleichterung klingen anders. Jemand holte ein Radio aus einem Haus. Andere machten es ihnen nach und bald saßen wir alle mitten auf der Straße im Dunkeln, in Gruppen um unsere Radios versammelt. Ein Sprecher unterbrach die abendliche Musiksendung, um eine wichtige Meldung einzufügen. Um zwanzig Uhr achtundzwanzig hatte ein neuer biologischer Packen in der Zentralprovinz eingeschlagen. Bei diesen Worten ging ein erneutes dumpfes Wehklagen von jeder Gruppe aus.
    »Ruhe!«, rief jemand, und sofort herrschte Stille. Obwohl die Worte Schreckliches verkündeten, waren sie immer noch erträglicher als die Stimmen aus der Dunkelheit.
    Der Sprecher sagte, dass der biologische Packen an den Osthängen des Nyandarua in der Nähe von Tusha, einem kleinen Kikuyudorf, niedergegangen sei. Der Überlandbus nach Nyeri fuhr durch Tusha. Von Gichichi bis nach Tusha waren es zwanzig Kilometer. Schreie wurden laut. Man hörte Gebete. Die meisten schwiegen. Aber wir alle wussten, dass die Zeit abgelaufen war. Innerhalb von vier Jahren hatte das Chaga den Kilimandscharo und Amboseli und das Grenzland von Namanga verschluckt und rückte die A 104 hinauf in Richtung Kijiado und Nairobi vor. Wir hatten es missachtet und waren weiterhin unserem Alltag nachgegangen in der Annahme, wenn es schließlich kommen würde, würden wir schon wissen, was zu tun sei. Jetzt war es zwanzig Kilometer nördlich von uns aus dem Himmel gefallen und sagte: Zwanzig Kilometer, vierhundert Tage – so lange habt ihr Zeit, euch zu überlegen, was ihr tun wollt.
    Dann erhob sich Jackson, der das Peugeot-Service-Büro führte. Er neigte den Kopf zur Seite. Er hob einen Finger. Alle verstummten. Er blickte zum Himmel hinauf. »Hört mal!« Ich hörte nichts. Er deutete nach Süden und da hörten wir es alle: Flugmotoren. Lichter zuckten aus der dunklen Baumlinie auf der anderen Seite des Tals hervor. Ihnen folgten weitere und wieder weitere, dann fielen zehn, zwanzig, dreißig und noch mehr Hubschrauber wie ein Heuschreckenschwarm über Gichichi her. Das Dröhnen ihrer Motoren erfüllte die ganze Welt. Ich wickelte mir den Schulschal um den Kopf, drückte die Hände auf die Ohren und brüllte laut, um den Krach zu übertönen, aber ich hatte immer noch das Gefühl, er würde mir den Schädel zerschmettern wie einen Tontopf. Fünfunddreißig Hubschrauber. Sie flogen so tief, dass ihr Abwind an unseren Blechdächern rüttelte und Staub in unsere Gesichter aufwirbelte. Einige der Jugendlichen jubelten und schwenkten ihre Taschenlampen und weißen Schul-T-Shirts zu den Piloten hinauf. Wo das Chaga hinkommt, da folgen die Vereinten Nationen dichtauf, wie ein Hund einer läufigen Hündin.
    Ein paar Stunden später kamen die Lastwagen durch unser Dorf. Das Brummen ihrer Motoren, während sie sich die gewundene Straße heraufmühten, weckte ganz Gichichi auf. »Es ist drei Uhr morgens!«, schrie Mrs. Kuria den staubigen weißen Lastwagen mit dem blauen Zeichen der UNECTA auf den Türen zu, aber nun konnte niemand mehr schlafen. Wir säumten die Hauptstraße, um zuzusehen, wie sie durch unser Dorf rumpelten. Ich frage mich, was die Fahrer wohl von all den Gesichtern gehalten haben mochten, die plötzlich im Licht ihrer Scheinwerfer auftauchten, als sie um die Kurve bogen. Einige winkten. Die Kinder winkten zurück. Es kamen immer noch welche, als wir schon hinunter gingen zum Shamba, um die Ziegen zu melken. Sie wanden sich, so weit das Auge reichte, wie eine weiße Schlange durch die Kurven der Straße, die durchs Tal führte. Als sie die Passhöhe erreichten, tauchte sie das frühmorgendliche Licht aus dem Osten in brennendes Gold.
    Die Lastwagen fuhren zwei Tage lang die Straße hinauf. Dann hörte der Konvoi auf und Flüchtlinge kamen aus der entgegengesetzten Richtung die Straße herunter. Zuerst die mit Fahrzeugen: Matatus, hoch beladen mit Bettzeug und Werkzeugen und Tieren; Lastwagen, auf denen die Familien hinten auf den Ladeflächen auf all den Dingen, die sie hatten retten können, schwankend saßen. Ein Toyota-Kleinbus, beinahe berstend vor etwas, das aussah wie

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