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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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sie nicht sah; er entzündete ein Feuer. Es gab eine Explosion und eine gelbe Stichflamme. Ich schrie laut auf. Ich dachte, mein Vater wäre vom Feuer erfasst worden. Er drehte sich zu mir um. Flammen loderten hinter ihm.
    »Begreifst du jetzt?«, sagte er.
    Ich begriff. Manchmal ist es besser, etwas, das man liebt, zu zerstören, als dass es einem weggenommen und zweckentfremdet wird. Rauch quoll unter dem Dach hervor, als wir wieder auf den Lastwagen kletterten. Die sudanesischen Soldaten waren nur insofern an dem Vorgang interessiert, als es sich um ein Feuer handelte, und Zerstörung erregt Soldaten. Unsere Kirche war jedoch die eines für sie fremden Gottes.
    Der alte Gikombe, der zu alt und zu dumm war, um wegzulaufen, brachte wieder einmal seinen ›Vor-dem-Lastwagen-Sitzen‹-Trick an. Jedes Mal, wenn die Soldaten ihn entfernten, rannte er wieder an seinen Platz. Er machte es einmal zu oft. Der Wagen hinter uns hatte angefangen zu rollen und der Fahrer übersah das schmutzige, in Lumpen gehüllte Etwas, das vor seinen Kotflügel huschte. Mit einem Schrei fiel Gikombe unter die Räder und wurde zermalmt.
    Ein Wind aus dem Chaga trug den Rauch von der brennenden Kirche über uns hinweg, während wir die Straße ins Tal hinabfuhren. Die Gemeinde von Gichichi gab es nicht mehr.
     
    Ich glaube, die Zeit verwandelt alles in sein Gegenteil. Jugend in Alter, Unschuld in Erfahrung, Gewissheit in Ungewissheit. Leben in Tod. Lange vor dem Ende verwandelte die Zeit Nairobi ins Chaga. Zehn Millionen Menschen hausten dicht gedrängt in den elenden Hütten, die die Türme der Innenstadt umringten. Täglich, stündlich kamen noch mehr dazu. Sie kamen aus dem Norden und aus dem Süden, vom Rift Valley und aus der Zentralprovinz, aus Ilbisil und Naivascha, aus Makindu und Gichichi.
    Früher war Nairobi eine schöne Stadt gewesen. Jetzt war es ein Flüchtlingslager. Einst hatte es hier große grüne Parks gegeben. Jetzt war dort gestampfter Staub zwischen Pappkartonbehausungen. Sämtliche Bäume waren abgehackt und als Brennholz verfeuert worden. Dörfer wuchsen auf Kreisverkehr-Inseln, gestrandet wie Schiffbrüchige auf Korallenriffen, ebenso in den Fußballstadien und auf Sportplätzen. Bewaffnete Patrouillen verscheuchten jeden Tag aufs Neue unrechtmäßige Siedler von den beiden Rollfeldern des Flughafens. Der Eisenbahnbetrieb war eingestellt worden, Süden und Norden waren voneinander abgeschnitten. Zehntausend Menschen lebten jetzt in verlassenen Waggons und Lokschuppen und zwischen den Schienensträngen. Der Nationalpark war ein Dreckkübel, geplündert nach Treibstoff und Baumaterial, die Tiere waren geflohen oder als Nahrung abgeschlachtet worden. Nairobis Luft war ein Smog aus Holzrauch, Dieselabgasen und Kloakengestank. Die Slums erstreckten sich zwanzig Kilometer weit nach allen Seiten. Man musste einen Fußmarsch von einer Stunde unternehmen, um Wasser zu holen, und dieses war übelriechend und dreckig. Genau wie das Chaga nahmen die Elendsbaracken zu, Stunde um Stunde, Familie um Familie. Hier ein paar zusammengebundene Plastikplanen, dort ein paar zusammengestellte Pappkartons, ein ausrangiertes Matatu, das als Wohnung diente, aufgestapelte gestohlene Ziegelsteine und Sackleinen und Blech. Stadt und Chaga bewegten sich aufeinander zu und glichen einander immer mehr.
    Ich habe von diesen ersten Tagen in Nairobi nicht viel im Gedächtnis behalten. Es war zu viel, alles ging zu schnell – es betäubte meinen Sinn für die Realität. Die Männer, die unsere Namen aufschrieben, die Flüchtlinge, die bereits eine jämmerliche Bleibe gefunden hatten und uns argwöhnisch beäugten, während wir zwischen den Reihen von weißen Zelten hindurchmarschierten und unsere Nummer suchten, wo Dinge mit uns gemacht wurden, die wir über uns ergehen ließen, ohne zu denken. Während der meisten Zeit hatte ich dieses schrille Geräusch in den Ohren, wenn man schreien möchte, aber nicht kann.
    Eine Ironie des Schicksals: Wir kamen von St. John, wir gingen nach St. John. Es war ein neues Lager im Süden, in der Nähe des internationalen Flughafens. Eins acht drei zwei. Eine Nummer, ein Zelt, eine Öllampe, ein Plastikwassereimer, eine Reiskelle. Alle hundert Zelte gab es eine Wasserzapfstelle. Alle hundert Zelte gab es eine Latrine. Ein Kloakenfluss rann an unserem Eingang vorbei. Der Gestank hätte uns am Schlaf gehindert, wenn das die Kälte nicht ohnehin getan hätte. Das Zelt war dünn und billig und bot keinen Schutz vor der

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