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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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lächelte.
    »Mr. Shepard«, sagte ich. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
    Er machte kurz ein bestürztes Gesicht, dann erinnerte, er sich.
    »Lösungen. Ach, ja. Nun, was meinst du?«
    Verschiedene Fragen gingen mir durch den Kopf, doch keine erschien mir so gut und so wichtig wie die, die ich gestellt hatte.
    »Ich meine, die einzige Frage, die wirklich von Bedeutung ist, ist die, ob Menschen im Chaga leben können.«
    Shepard stieß eine Tür auf, und wir befanden uns auf einer metallenen Plattform direkt über einem der großen Schienenstränge.
    »Diese Frage, meine liebe Freundin, ist die einzige, über die wir nicht einmal nachdenken dürfen«, sagte Shepard, während er uns zu einer Treppe geleitete.
    Die Tour war beendet. Wir hatten das Chaga gesehen. Wir hatten unsere Welt und unsere Zukunft und unseren Platz unter den Sternen gesehen; Dinge, die zu groß waren für Kinder aus einem Kirchenanger auf dem Land, die jedoch auch sie in Betracht ziehen mussten, denn im Gegensatz zu den meisten Wazungu hier würden sie Lösungen finden müssen.
    Unten auf dem roten Lehmboden mit dem Dieselgestank und dem Kreischen der Kettensägen dankten wir Dr. Shepard. Er wirkte gerührt. Er war offensichtlich eine mächtige Person hier. Ein Wort von ihm, und schon brachte uns ein Landcruiser der UNECTA nach Hause. Wir waren so erfüllt von dem, was wir gesehen hatten, dass uns gar nicht einfiel, dem Fahrer zu sagen, uns im Nachbardorf herauszulassen, damit wir den Rest zu Fuß gehen könnten. Stattdessen fuhren wir im Landcruiser auf der Hauptstraße dahin, vorbei an Harans Laden und dem Peugeot-Service und all den Männern, die unter den Bäumen saßen und Zeitung lasen.
    Und dann mussten wir meiner Mutter und meinem Vater unter die Augen treten. Das war schlimm. Mein Vater ging mit mir in sein Arbeitszimmer. Ich stand, er saß. Er nahm seine Kalenjin-Bibel zur Hand, die ihm der Bischof bei seiner Weihe geschenkt hatte, damit er Gottes Wort stets in seiner eigenen Sprache bei sich habe; er legte sie auf den Schreibtisch zwischen sich und mir. Er erklärte mir, dass ich ihn und meine Mutter betrogen habe, dass ich Klein-Ei unbeaufsichtigt gelassen habe, dass ich gelogen habe, dass ich gestohlen habe, nicht Gottes Geld, denn Gott hatte keinen Bedarf an Geld, sondern das Geld von Leuten, mit denen ich täglich Umgang hatte, Leute, neben denen ich jeden Sonntag sang und betete, Geld, das sie im Glauben gegeben hatten. Er sprach all dies auf eine sehr direkte, sehr ruhige Art, ohne ein einziges Mal die Stimme zu erheben. Ich hätte ihm am liebsten alles erzählt, was ich gesehen hatte, wollte es ihm als Tausch anbieten, ja, ich habe betrogen, ich habe gelogen, habe die Christen von Gichichi bestohlen, aber ich habe etwas gelernt. Ich habe etwas gesehen. Ich habe unsere Sonne gesehen, verloren unter einer Million anderer Sonnen. Ich habe diese Welt gesehen, die Gott angeblich als etwas ganz Besonderes unter allen Welten geschaffen hat, so klein, dass man sie nicht einmal sieht. Ich habe Menschen gesehen, die Gott angeblich so sehr liebte, dass er für ihre Sünden gestorben ist. Versuche, lebendige Maschinen zu verstehen, jede kleiner als das kleinste Lebewesen, aber zusammen so groß, dass das Licht Jahre braucht, ihre Gemeinschaft zu durchqueren. Ich weiß, wie sehr sich die Dinge von dem, was wir glauben, unterscheiden, hätte ich am liebsten gesagt, aber ich sagte nichts, denn mein Vater tat etwas Unglaubliches. Er stand auf. Ohne ein Zeichen oder ein Wort oder irgendeine Zurschaustellung von Kraft schlug er mich ins Gesicht. Ich stürzte zu Boden, vor allem weil mich der Schlag so unerwartet getroffen hatte, und nicht so sehr wegen des Schmerzes. Dann tat er noch etwas Unglaubliches. Er setzte sich. Er legte den Kopf in die Hand. Er begann zu weinen. Jetzt bekam ich große Angst und rannte zu meiner Mutter.
    »Er ist ein furchtsamer Mensch«, sagte sie. »Furchtsame Menschen schlagen oft das, was sie fürchten.«
    »Er hat seine Kirche, er hat seinen Priesterkragen, er hat seine Bibel, wovor sollte er sich fürchten?«
    »Vor dir«, sagte sie. Diese Antwort war ebenso überraschend wie der Schlag meines Vaters. Meine Mutter fragte mich, ob ich mich an damals erinnerte, nach dem Streit vor der Kirche, als mein Vater auf der roten Yamaha für eine Woche verschwunden war. Ich sagte ja, ich erinnere mich.
    »Er ist nach Süden runter gefahren, nach Nairobi und noch weiter. Er wollte sich das ansehen, was er

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