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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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diesem Sommer beobachteten wir, wie die Keime sprossen, während die Hütten um den Markt herum immer zahlreicher wurden und ihn erstickten und ihn auseinander nahmen, um daraus Dächer und Wände zu bauen. Aber die Shambas ließen sie unberührt. Es war, als ob irgendein Schutz über ihnen läge. Die Frauen hackten und sangen zum Radio und lachten und schwatzten nach Frauenart und Klein-Ei und die Chole-Mädchen jagten mit Knüppeln riesige Kanalratten. Eines Tages entdeckte ich kleine Becher mit Bier und Teller mit Mais und Salz in einer Ecke des Feldes und begriff, welcher Schutz hier wirkte.
    Meine Mutter redete sich ein, es sei Gichichi, aber ich sah, dass es nicht so war. In Gichichi standen die Männer nicht mit einem so nackten Starren am Drahtzaun. In Gichichi kreisten die Kampfhubschrauber nicht wie Geier über einem. In Gichichi hatten die in leuchtenden Farben lackierten Matatus, die dröhnend hin und her brausten, keine an die Dächer angenieteten Maschinengewehre und auf den Ladeflächen saßen keine Jungen in Sportkleidung und Besitzer-Gehabe. Das war etwas Neues in Nairobi, diese bewaffneten Banden; taktische Kampfeinheiten. Männer, überwiegend jung, in Banden organisiert, mit Fahrzeugen und Gewehren, mit irgendetwas bekleidet, das als Uniform gelten mochte. Einige waren nicht älter als zwölf. Sie gaben sich Namen wie Schwarze Simbas und Schwarze Rhinos und Ebonettes und Vereinigte Christliche Front und Schwarze Taliban. Das Wort ›schwarz‹ gefiel ihnen. Sie hielten es für bedrohlich klingend. Diese sogenannten Taktiker hatten so viele Philosophien und Glaubensrichtungen wie Namen, aber jede dieser Gruppen beherrschte ein bestimmtes Territorium, sie patrouillierten die Straßen und erklärten den Leuten, sie seien das Gesetz. Sie untermauerten ihr Gesetz mit Schüssen in die Beine und dem Verbrennen von Autoreifen, und sie verteidigten ihr Revier mit AK47-Gewehren. Wir alle wussten, wenn das Chaga käme, würden sie sich wie Hyänen um den Leichnam von Nairobi streiten. Die Soca Boys waren unsere lokale Armee. Sie trugen Sportklamotten und knielange Manager-Mäntel und die Seiten ihrer Picknis, wie man die mit Waffen ausgestatteten Matatus nannte, waren mit den Logos von Fußballvereinen beschriftet. Auf ihren Fahnen hatten sie einen schwarz und weiß gemusterten Ball auf einem grünen Feld. Trotz ihres Namens war das kein Fußball. Es war ein Buckyball, ein Karbon-Fullerene-Molekül, der Baustein – halb Lebewesen, halb Maschine – des Chaga. Ihr Anführer, ein rattengesichtiger Junge in einer Manchester-United-Jacke und einer Sonnenbrille, die ihm ständig die Nase herunterrutschte, mochte keine Christen, deshalb schickte er seine Picknis an Sonntagen die Jogoo Road auf und ab, mit dröhnenden Motoren und in die Luft schießend, um zu demonstrieren, dass sie das konnten.
    Die Church Army hatte ihre eigenen Pläne für die bevorstehende Zeit der Wandlungen. Einige Abende später, als ich auf dem Weg zum Klo war, bekam ich eine Unterhaltung zwischen Pfarrer Elezeke und meinem Vater im Arbeitszimmer des Pfarrers mit. Ich knipste meine Taschenlampe aus und lauschte an den Fensterjalousien.
    »Wir brauchen Leute wie dich, Jonathan«, sagte Elezeke. »Es ist ein Werk Gottes, denke ich. Wir haben die Gelegenheit, eine echte christliche Gesellschaft aufzubauen.«
    »Man kann nicht sicher sein.«
    »Es gibt die Taktiker …«
    »Die sind Abschaum. Es sind Geier.«
    »Lass mich weiterreden, Jonathan. Einige von ihnen gehen ins Chaga. Sie bringen Dinge heraus – bei allen Quarantänevorschriften gibt es einiges, was die Amerikaner dringend vom Chaga haben wollen. Es ist etwas anderes als das, was dem Hörensagen nach da drin sein soll. Etwas ganz, ganz anderes. Pflanzen, die wie Maschinen sind, die Elektrizität, sauberes Wasser, Gewebe, Schutz, Medizin erzeugen. Wissen. Es sind Geräte von der Größe dieses Daumens, die Informationen direkt ins Gehirn übermitteln. Und noch mehr: es leben Menschen da drin, nicht wie Primitive, nicht – verzeih mir – wie Flüchtlinge. Es formt sich selbst zu diesen Wesen, sie haben gelernt, es für sich arbeiten zu lassen. Es gibt ganze Städte – Städte, sage ich dir – dort unten unter dem Kilimandscharo. Eine gewaltige Gesellschaft entsteht.«
    »Es formt sich selbst zu ihnen«, sagte mein Vater. »Und es formt sich zu sich selbst.«
    Es folgte eine Pause.
    »Ja. Das stimmt. Unterschiedliche Arten des Menschseins.«
    »Ich kann dir dabei nicht helfen, mein

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