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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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gegenseitig Wärme zu spenden, und am dritten Tag erreichten wir Tinderet am Rand des Chaga.
     
    * * *
     
    Ten hatte uns mit strammer Marschgeschwindigkeit angeführt, als ob sie es kaum erwarten könnte, dass wir Kenia hinter uns ließen. Seit dem späten Vormittag befanden wir uns auf einem langen, mühsamen Aufstieg einen steilen Hang hinauf. Ich war einigermaßen geübt im Bergwandern, sodass mir Anstrengung wenig ausmachte, aber für die Jungen und die Frauen mit Babies war der Weg sehr kräftezehrend. Als ich vorschlug, eine Rast einzulegen, sah ich, wie ein kurzes Aufwallen von Ärger über Tens Gesicht huschte. Sobald sie es durchsetzen konnte, schulterten wir unser Gepäck wieder und setzten unseren Weg fort. Ich versuchte, zu ihr aufzuholen, aber Ten marschierte immer schneller vor mir her, bis sie kurz vor dem Gipfel beinahe in Laufschritt verfiel.
    »Shoun!«, rief sie. »Komm mit!«
    Sie rannte zwischen dem sich lichtenden Baumbestand zum Gipfel hinauf. Ich folgte ihr, sprang in eine kleine Senke hinunter und plötzlichen öffneten sich die Baumreihen, und ich befand mich am Rand des Chaga.
    Der Boden fiel vor mir schroff ab, hinunter ins Rift Valley, Grün auf Grün auf Grün, in den Talboden übergehend, wo die Muster der Felder als Flickwerk von Gelb und Umbra und Ocker zu erkennen waren. Die Perspektive ließ die Farben verschwimmen – ich konnte bestimmt achtzig Kilometer weit sehen –, bis sie sich plötzlich auf atemberaubende Weise veränderten. Braun- und Beigetöne einer ausgetrockneten Landschaft, gemischt mit Burgunder- und Rosttönen, waren durchzogen von Adern in Purpur und Weiß, dann explodierten sie in ein Chaos, wie ein Blumenbeet mit jeder wahrnehmbaren Farbe, ein Durcheinander von Formen und Farben, wie ein wahnwitziges Korallenriff, wie der Inhalt einer Kinderspielkiste von Plastikspielzeug, ausgeschüttet auf einem chinesischen Teppich. Es strengte die Augen an, es tat dem Gehirn weh. Ich verfolgte es zurück, versuchte einen Sinn in dem zu erkennen, was ich sah. Eine schroffe Wand, tiefrot, ragte plötzlich aus der chaotischen Landschaft auf, senkrecht, beinahe so hoch wie die Erhebung, auf der ich stand. Es war keine feste Wand, sie schien mir vielmehr aus Säulen oder – wie ich dachte – Baumstämmen zu bestehen. Sie mussten von gigantischer Größe sein, wenn sie aus dieser Entfernung zu sehen waren. Sie öffneten sich zu einem undurchbrochenen, karmesinroten Laubdach. In weiterer Ferne wurde das flache Dach zu einem Wirrwarr von dunklen Grüntönen, durchbrochen von etwas, das ich nur als kleine Tafelebene beschreiben kann, wie Devil’s Tower in Wyoming oder die alten Vulkane von Puy de Dome. Aber diese hier glitzerten in der Sonne wie Glas. Dahinter war die Landschaft gestreift wie ein Tiger, gelb und dunkelbraun, und Gebilde wie kippende Eisberge, rein weiß, ragten draus hervor. Und wiederum dahinter erkannte ich keine Einzelheiten mehr, aber die Farben setzten sich scheinbar unendlich fort, bis zum Horizont.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dastand und das Chaga ansah. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Irgendwann wurde mir bewusst, dass Ten neben mir stand. Sie versuchte nicht, mich zum Weitergehen aufzufordern oder mit mir zu sprechen. Sie wusste, das Chaga gehörte zu den Dingen, die man zuerst mit allen Sinnen erfassen muss, bevor man sie mit dem Kopf begreifen kann. Einer nach dem anderen gesellte sich der Rest der Gruppe zu uns. Wir standen aufgereiht an dem Felsabhang und blickten hinunter auf unsere neue Heimat.
    Dann gingen wir den Pfad ins Tal hinunter.
    Nachdem wir etwa eine halbe Stunde lang den Hang hinunter geklettert waren, hieß Meji, der an der Spitze marschierte, uns anhalten.
    »Was ist los?«, fragte ich Ten. Sie berührte ihren Kommunikator, eine halbe Eierschale aus lebendigem Plastik entfaltete sich aus den Kopfhörern und drückte sich auf ihr rechtes Auge.
    »Das gefällt mir nicht«, sagte sie. »Rauch, von Menengai.«
    »Menengai?«
    »Das ist unser Ziel. Meji versucht, Funkkontakt zu ihnen zu bekommen.«
    Ich blickte über Tens Kopf zu Meji, der sich eine Hand ans Ohr hielt und den Blick schweifen ließ. Er sah besorgt aus.
    »Und?«
    »Nichts.«
    »Was sollen wir tun?«
    »Wir gehen weiter.«
    Wir setzten unseren Abstieg durch verschiedene Mikro-Klimazonen fort. Am Talboden war es um fünfzehn Grad kälter als in den kühlen, feuchten Nandi-Bergen. Wir arbeiteten uns durch dichtes Gestrüpp und überwuchertes Gebüsch, über verlassene

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