Auf der Straße nach Oodnadatta
als wir es je zuvor beschriften hatten.
»Ten, wo sind wir?«, fragte ich. Das Chaga hatte unsere Geografie verändert, hatte all unsere Landkarten unbrauchbar gemacht. Wir richteten uns nach dem Kompass und nach geophysikalischen Landmarken.
»Wir haben das Nyandarua-Tal hinter uns gelassen, jetzt steigen wir an der Ostseite der Aberdare-Berge hinauf.«
Die Strapazen des Marsches machten sich immer mehr bemerkbar. Naomi und ich mühten uns am Schluss der Reihe mit den Alten und den Frauen und Kindern ab, und mit Hope. Wir schleppten uns den Hang hinauf, aber Hope machte schlapp, konnte nicht mehr.
»Ich glaube … ich spüre …«, sagte sie, eine Hand auf dem Bauch.
»Ruf Ten her«, befahl ich Naomi. Sie sprach in ihr Mikro.
»Keine Antwort.«
»Wie bitte?«
»Sie antwortet nicht.«
Ich rannte los. Auf Händen, Knien, dem Bauch, wie immer es nur ging, schaffte ich es bis zu dem Grat hinauf, so schnell ich konnte. Jenseits des Kamms änderte sich das Gelände, so unvermittelt, wie es Chaga-Landschaften zu tun vermögen, von dem moosigen Labyrinth zu einer Pflanzung von gleichmäßig eingesetzten Bäumen, die wie riesige Ohren aus Weizen geformt waren.
Ten war hundert Meter weiter unten am Hang. Sie stand wie eine Statue zwischen den Weizenbäumen. Ihr Stab war fest in den Boden gesteckt. Sie reagierte nicht, als ich ihren Namen rief. Ich rannte zwischen den Bäumen hindurch zu ihr hinunter.
»Ten! Hope kann nicht weiter. Wir müssen anhalten.«
»Nein!«, schrie Ten. Sie sah mich nicht an, sondern blickte starr zwischen den Baumreihen hindurch in die Tiefe.
»Ten!« Ich packte sie, drehte sie zu mir herum. Ihr Gesicht war wild, furchtsam, tränenüberströmt, freudig, als ob sie in diesem Hain von fremdweltlichen Pflanzen etwas Vertrautes und gleichzeitig schrecklich Quälendes sähe. »Ten! Du hast es versprochen.«
»Shoun! Shoun! Ich weiß, wo ich bin! Ich weiß, was das hier ist! Das ist der Pass und das ist der Verlauf der Straße und dies ist das Tal, und das ist der Fluss, und das da unten – das ist Gichichi!« Sie sah zurück zum Pass hinauf und rief den Gestalten an der Baumlinie zu: »Allerhöchster! Gichichi! Hier ist Gichichi! Wir sind zu Hause!«
Sie hob ab. Sie hielt den Stab wie einen Jagdspeer in der Hand, sie sprang über Steine und umgestürzte Baumstämme, sie watete durch Bäche; preschte zwischen den Bäumen hindurch. Ich schoss wie eine Gewehrkugel hinter ihr her, aber ich machte mir nicht die geringste Hoffnung, dass ich sie einholen würde. Ich fand Ten, als sie auf einer freien Fläche stand, wo ein umgestürzter Weizenbaum andere wie Dominosteine umgeworfen hatte. Ihr Stab war tief in die Erde gesteckt. Ich störte sie nicht. Ich sagte kein Wort. Ich wusste, dass ich Zeuge eines heiligen Vorgangs wurde.
Sie ließ sich auf die Knie nieder. Sie schloss die Augen. Sie drückte die Hände auf den Boden. Und ich sah dunkle Linien, wie träge schwarze Lichtblitze, die von ihren Fingerspitzen über die Chaga-Decke zuckten. Die Linien bogen und schnitten sich, neue Pfade sprossen daraus hervor.
Der Moosteppich glich allmählich einer japanischen Schale mit krakelierter Glasur. Doch alles war auf Ten konzentriert. Sie war die Quelle des Musters. Und die Chaga-Decke floss in Richtung der Kraftlinien. Formen entstanden unter dem sich bewegenden Moos, die sich wie Rippen unter der Haut abzeichneten. Sie bildeten Gitter und Rechtecke und schoben die Chaga-Decke langsam weiter. Ich begriff, was ich da sah. Die Linien begrabener Mauern und Gebäude wurden exhumiert. Molekül um Molekül, Zentimeter um Zentimeter, wurde Gichichi aus der Erde gezogen.
Als die anderen den Weg vom Bergkamm herunter geschafft hatten, standen die Mauern bereits hüfthoch da und Nutzgeräte erhoben sich aus der Erde: Stromgeneratoren, Wasserpumpen, Wärmeaustauscher, Nanofakturzellen. Flüchtlinge und Krieger wandelten voller Erstaunen zwischen den langsam sich erhebenden Porzellanwänden herum.
Dann beliebte es Ten, mich zu erkennen.
Sie hob den Blick. Sie hatte die Zähne gefletscht, ihr Haar war verfilzt, Schweiß tropfte ihr vom Kinn und den Wangenknochen. Ihr Gesicht war eingefallen, sie verbrannte ihre eigene Körpermasse, rammte sie durch diese Geist/Chaga-Grenzfläche in ihr Gehirn, um Nanoprozessoren in großem Maß zu programmieren.
»Wir haben es in der Gewalt, Shoun«, flüsterte sie. »Wir können der Welt jede uns beliebige Gestalt geben. Wir können uns eine Heimat schaffen.«
Der
Weitere Kostenlose Bücher