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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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drohten arterielle Krämpfe und danach, am Ende der zweiten Woche, die Gefahr einer Nachblutung. Aber das Allerschlimmste war, dass ihr Vater immer noch im Koma lag. Zwar lebte er, die Messungen der Gehirnströme zeigten elektrische Aktivität. Aber ehe er nicht aufgewacht war, konnte keiner der Ärzte das Ausmaß der Zellschädigung ermessen, die sie zwar auf den Scan-Bildern erkennen, aber nicht exakt eingrenzen konnten.
    Die ersten zwei Tage nach der Operation verbrachte Kate am Krankenbett ihres Vaters, sprach mit ihm oder las ihm vor. Die Ärzte allerdings unterstützten lautstark Matts Ansicht, dass Kate ihre Kräfte aufsparen sollte, damit sie ihren Vater langfristig unterstützen könnte, wenn die Zeit der wichtigen Entscheidungen käme, die eventuell anstünden. Matt quälte Kate ständig damit, dass sie ihre »Verantwortung« wahrnehmen solle, was hieß, sie sollte ihm eine Generalvollmacht über alle Geschäfte ihres Vaters ausstellen und ihm die Codes aushändigen, die ihr Vater im Gewölbe seines Hauses aufbewahrte, zu dem, wie sie inzwischen wusste, nur sie Zugang hatte. Kate wies ihn verärgert ab. Trotzdem reduzierte sie nach den ersten beiden Tagen ihre Besuche auf eine Stunde dreimal am Tag.
    Bei diesen Besuchen waren Joel, Jeff oder Marjorie häufig dabei, wenn sie Kates Vater nicht allein besuchten. Auf Marjories Vorschlag hin besprach Kate eine Kassette mit ihrer Stimme, die vorlas, und wies das Personal an, diese abzuspielen, wenn sie selbst nicht da war. »Wer weiß«, sagte Marjorie. »Vielleicht erreicht ihn der Klang deiner Stimme, ihr Timbre, deine charakteristische Tonhöhe oder dein Sprechrhythmus. Selbst wenn die Chancen dazu tausend zu eins stehen, sollten wir es ausprobieren.« Meistens jedoch, wenn Kate ihren Vater besuchte, ertappte sie sich dabei, dass sie unruhig im Zimmer hin und herlief. Der Anblick, wie er so mager und grau dalag im Gewirr der Schläuche, gespickt mit Kathedern und Infusionskanülen, umgeben von genau den elektronischen Geräten, deren Einsatz er selbst unterstützt hatte, der dicke Verband um seinen Kopf, blendend weiß und steril, war ein unerträglicher Gegensatz zu dem Mann, den sie als ihren Vater kannte. Sein Körper war ein Fremder für sie. Es dämmerte Kate, dass sie nur einen Teil von ihm gekannt oder klar wahrgenommen hatte, den Teil, den er selbst absichtlich und immerfort als seine Persönlichkeit ihr gegenüber dargestellt hatte. Mit Verwirrung stellte sie fest, dass sie diese unbekannte Seite an ihm eher mit dem Gesicht auf der Laserdisk in Verbindung bringen konnte als die Person, die in ihrer Erinnerung existierte. Je mehr ihr klar wurde, dass er krank, hilflos und unfähig war, ihr bei diesem verwirrenden Problem zu helfen, desto mehr wuchs der Klumpen Schuldgefühl, der sich schwer in ihrem Magen eingenistet hatte, drückte und geriet zum richtigen Schmerz, der es ihr fast unmöglich machte, zu essen.
    Dieses Gefühl der Entfremdung zu dem Mann dort im Krankenbett verschlimmerte sich jedes Mal, wenn Matt sie nach der Laserdisk fragte. Ein paar Mal holte sie die Disk aus ihrer Bauchtasche und beschloss, sie noch einmal anzuschauen, doch die Erkenntnis, dass sie dann noch einmal ihres Vaters Gewäsch über seine großen Beiträge zum FORTSCHRITT, über Wunder und das Schicksal der Spezies Mensch anhören musste, noch einmal seine verfluchten erpresserischen Tränen sehen, die er angesichts seiner eigenen Verwundbarkeit weinte, ließ sie jedes Mal wieder davor zurückschrecken. Dann schlugen ihre Gedanken unweigerlich Seitenpfade ein und sie erinnerte sich an seine Vorträge während ihrer Kindheit über Autonomie und Selbstständigkeit in denkenden vollständigen Menschen, sein Beharren darauf, dass Menschen, die allein nicht überleben konnten, keine vollständigen Menschen seien, dass man nur den »seelisch Gezeichneten und körperlich Verkrüppelten« nachsehen dürfe, wenn sie nicht die völlige Verantwortung für das übernähmen, was ihnen zustieß, und dass alle anderen, die das nicht konnten, begreifen müssten, dass sie keine vollständigen Menschen seien und dankbar für das sein sollten, was sie von der Gesellschaft bekamen, anstatt ständig mehr zu verlangen.
    Als sie älter wurde, hatte Kate ihrem Vater natürlich widersprochen, vor allem, als er begann, seinen eigenen Bruder als bestes Beispiel für seine Ansicht ins Spiel zu bringen. »Jeder dieser sogenannten vollständigen Menschen hat unzählige andere, die ihm den Steigbügel

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