Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
halten. Das ist es, was Privileg bedeutet, Vater. Und die gegenseitige Abhängigkeit voneinander ist der Grund, warum wir so etwas wie eine Sozialstruktur besitzen, ohne welche die menschliche Spezies nie überlebt hätte. Ohne das Blut, den Schweiß und die Tränen derjenigen, die deinen GROSSEN Männern den Rücken freigehalten haben, gäbe es so etwas wie die moderne Welt überhaupt nicht. Du weißt, wen ich damit meine. Sklaven, Fremdarbeiter. Die Menschen, welche die Infrastruktur erbauten, die deine vollständigen Menschen für gegeben halten. Und vor allem die Frauen, die sich stets um den hilflosesten Teil der Bevölkerung gekümmert haben.«
    Das Nachsinnen über dieses alte Streitthema ließ Kates Schuldgefühl – und die unausgesprochene Wut, die sie mit niemandem teilen konnte – immer mehr wachsen. Das schreckliche Piepsen des Monitors, das leise hohe Geräusch der elektronischen Geräte, die fast ständige Anwesenheit eines auf Schlaganfälle spezialisierten Krankenpflegers, das alles wob einen Alptraum aus Routine um sie. Sie war eine Schwindlerin: für die Medien die tragische, besorgte Tochter, für Marjorie die standhafte und für die beiden J’s die geduldige, liebende. Die einzig ehrliche Ansprache, die sie halten konnte, fand in ihrem Kopf statt, an ihren Vater gerichtet.
    Du nahmst mich bei der Hand, Vater, führtest mich hier und dorthin, zeigtest mir dieses Wunder, schenktest mir jenes. Du hast mir die Augen für Schönheit geöffnet und mir beigebracht, an Liebe und Hoffnung zu glauben. Ich nahm alle diese Geschenke aus deiner Hand an, ohne deine Großzügigkeit zu hinterfragen, so instinktiv, wie ein Vogelküken im Nest den Schnabel öffnet und den endlosen Strom Nahrung in sich aufnimmt, den seine Eltern herbeibringen. Ein Geschenk ist ein Band, das beide Seiten bindet, sagtest du immer und hast von Geschäften erzählt, die zu gut waren, um reell zu sein, ebenso von Freundschaften. Nun liegst du hier, eine schweigende Hülle, und verlangst den Ausgleich für die vielen Jahre Liebe, die du mit offener Hand und selten versagender Großherzigkeit gegeben hast. Hast du all die Jahre daran gedacht, wie du mich in die Falle lockst, damit sich dein relativ kleiner Einsatz zu einer wahren Goldgrube auswächst? Du und deine Spielchen, Vater. Nicht einmal der kleinste Hinweis, dass wir eines spielen.
    Wenn du jetzt sprechen könntest, würdest du sagen, es ist eine Frage der Loyalität, punktum. Doch damit würdest du uns beiden in die Tasche lügen. Aber wir beide hatten ja niemals die gleichen ethischen Wertmaßstäbe, stimmt’s? Wen wundert’s auch?
    Doch mit ihrer Mutter teilte sie ebenfalls nicht die gleichen moralischen Werte. Es war eine harte Zeit für sie gewesen, damals nach der Scheidung. Sie hatte gewählt, während der Schulzeit bei ihrem Vater zu leben und in den Ferien bei ihrer Mutter. Schlimm genug, dass ihre Mutter ihre Wahl nicht gut hieß, aber als sie noch ein Kind bekam und wieder heiratete – einen sehr strenggläubigen Fundamentalisten –, wurden für Kate die Ferien zu Ausflügen in die Hölle. Ihre Mutter hatte sie enterbt, als der erste der beiden J’s zu Kate zog. »Du bist deines Vaters Tochter, aber nicht mein Kind«, hatte sie gesagt. »Gott ist mein Zeuge, dass ich alles versucht habe. Doch nun bist du zu weit gegangen. Meine anderen Kinder sollen begreifen – wenn du es schon nicht tust –, dass diese Art Sünde nicht hingenommen werden kann.« Es war nun drei Jahre her, seit Kate sich fühlte, als habe sie nur noch einen Elternteil.
    Am vierten Tag nach dem Eingriff glaubte Kate, als sie in ihres Vaters Gesicht starrte, seine Augenlider zucken zu sehen. »Haben Sie das gesehen, Jean?«, fragte sie den Pfleger. »Wacht er auf?« Ihr Herz pochte laut, ihre Kehle wurde schmerzhaft eng.
    »Was gesehen?«
    Kate legte sich die Hände auf die Wangen. Die Monitoren zeigten dasselbe Bild wie immer. Das Gesicht ihres Vaters war reglos. »Eine Einbildung, weiter nichts«, sagte sie. Und wünschte sich so stark, wie sie sich noch nie etwas gewünscht hatte, dass er tatsächlich aufgewacht wäre. Es wäre der einzige Ausweg aus dem Dilemma, das er ihr aufgebürdet hatte. Entweder das oder sein unbestreitbarer Tod. An den zu denken sie, wie sie merkte, überhaupt nicht ertragen konnte.
     
    Was Medienhaie für interessant hielten, änderte sich ständig und war selten ergründbar. Dieser Tage war sowieso alles, was mit Lady Godiva zusammenhing, interessant, ebenso

Weitere Kostenlose Bücher