Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
vulkanisch.«
Wenn sich die Kreationisten mit ihrer Forderung durchsetzen, dass die wörtliche Auslegung der Bibel gleichberechtigt neben wissenschaftliche Erkenntnisse gestellt werden soll – muss die Lehrerin dann künftig sagen: »Vor vielen, vielen, allerdings möglicherweise vor höchstens zehntausend Jahren war hier alles vulkanisch«? Die Kreationisten leisten Verzicht auf bemerkenswert viele Bildungsinhalte.
Phoenix also. 1960, zur Zeit der Reise von John Steinbeck, lebten dort weniger als 440000 Menschen. Als ich zum ersten Mal herkam, in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, waren es ungefähr doppelt so viele. Heute hat die Hauptstadt von Arizona mehr als 1,5 Millionen Einwohner. Um rund 25 Prozent ist sie seit dem Jahr 2000 gewachsen, mehr als jede andere Stadt in den USA außer Las Vegas. Sie erstreckt sich inzwischen auf der gigantischen Fläche von über 1300 Quadratkilometern – da kommt nicht einmal Los Angeles mit. Man hat das Gefühl, die Autobahnen dieser Stadt nie wieder verlassen zu können ... ewig wird man hier bleiben müssen ... ein einsamer Satellit auf einer unendlichen Umlaufbahn ... na ja, einsam eigentlich nicht. Also: einer von Millionen Satelliten auf vier Rädern.
Auch die Gesamtbevölkerung in Arizona wächst schneller als in jedem anderen Staat der USA. Von Bevölkerungsexplosion kann man zwar kaum sprechen, wenn in einem Land, das ungefähr so groß ist wie Polen, etwa 6,3 Millionen Menschen wohnen. Aber noch 1960 waren es eben nur 1,3 Millionen. Brisant sind ohnehin weniger die absoluten Zahlen als vielmehr die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung. Auf 29 Prozent ist der Anteil der Latinos offiziellen Behördenangaben zufolge inzwischen gestiegen – das ist weniger als in New Mexico, wo der Anteil bei 44 Prozent liegt, oder als in Kalifornien und Texas mit jeweils 36 Prozent. Aber seit 2003 bringt die hispanische Bevölkerung in Arizona mehr Kinder zur Welt als die weiße nichthispanische Bevölkerung, und wenn das so bleibt, dann werden Latinos im Jahr 2035 dort die Mehrheit der Bevölkerung stellen.
Wäre die Welt so, wie ich sie mir wünschte, dann würden die Alteingesessenen die Neuankömmlinge freudig und voller Interesse an deren anderen kulturellen Gepflogenheiten begrüßen und die Einwanderer würden sich rücksichtsvoll an die Sitten und Gebräuche ihrer neuen Heimat anpassen. Beide Seiten würden verstehen, dass sie in wirtschaftlicher Hinsicht voneinander profitieren und gerne gemeinsam Feste feiern. Leider ist die Welt nicht so, wie ich sie mir wünsche. Einwanderung führt oft zu Rassismus und Feindseligkeit, auf beiden Seiten übrigens.
Das Bild vom »Schmelztiegel«, der die Vereinigten Staaten angeblich sein sollen, gehört zu den verlogensten Gemeinplätzen der Geschichtsschreibung. Träfe die Behauptung zu, dann gäbe es in großen Städten weder Chinatown noch Little Italy, wo viele Einwohner bis heute nicht einmal Englisch sprechen. Was allerdings nicht zwangsläufig von Ausgrenzung zeugen muss, sondern auch von Abschottung zeugen kann. Beide Möglichkeiten widerlegen das Klischee, und das wenigstens taktvoll. Es gibt auch weniger harmlose Hinweise auf Parallelgesellschaften. Den Hurrikan »Katrina« beispielsweise. Von dem später noch die Rede sein wird.
Wie viele illegale Einwanderer gibt es derzeit in den USA? Ich weiß es nicht. Für keine andere Angabe in diesem Buch habe ich auch nur annähernd vergleichbar viel Aufwand betrieben wie dafür, eine wenigstens halbwegs zuverlässige Antwort auf diese Frage zu finden. Am Ende weiß ich nicht mehr als die Autoren des Internet-Lexikons Wikipedia: Es sind zwischen sieben und 20 Millionen. Die Zahl zwölf Millionen wird in diesem Zusammenhang gerne genannt, ist aber auch nicht besser belegt als andere Angaben.
Was man immerhin weiß: Seit 2001 hat der Grenzschutz mehr als sechs Millionen Mexikaner in den USA aufgegriffen und zurückgeschickt. Um den illegalen Grenzübertritt zu erschweren, wird derzeit an einem Zaun gebaut, der mehr als 1100 Kilometer lang sein soll, wenn er fertig ist. Falls er fertig wird. Der Plan ist seit Jahren politisch umstritten.
In Nogales zieht sich schon seit 1994 ein hoher Zaun mit Stacheldraht durch die Stadt, denn dort verläuft die Grenze mittendurch: Der kleinere Teil liegt in den USA, der größere in Mexiko. Sind hier die Aggressionen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit Händen zu greifen? »Nein«, sagt Melisa Woolfolk. »Hier gibt es
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