Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
behauptet, »too tough to die – zum Sterben zu zäh«. Heute lebt sie vom Tourismus. Täglich wird hier mehrfach eine Schießerei nachgestellt, die Schießerei am O.K. Corral, an der 1881 die legendären Revolverhelden Wyatt Earp und Doc Holliday beteiligt waren. Einwohner der Stadt laufen in der Mode von damals durch Straßen, die aussehen wie damals. Aber das wirklich Interessante an dieser Stadt ist der alte Friedhof »Boothill – Stiefelhügel«. Der seltsame Name deutet darauf hin, dass die meisten, die hier liegen, nicht friedlich im Bett gestorben sind, sondern mitten aus dem Leben gerissen wurden. Mit den Stiefeln an den Füßen.
Manche Touristen laufen hier grölend und lachend herum, posieren für Fotos und amüsieren sich prächtig über bizarre Grabinschriften: »Hier liegt George Johnson, 1882 irrtümlich aufgeknüpft.« Die genauere Erklärung des Lynchmordes an dem vermeintlichen Pferdedieb: »He was right, we was wrong but we strung him up and now he´s gone – er hatte recht, wir hatten unrecht, aber wir haben ihn aufgehängt und jetzt ist er tot.«
Sehr komisch. Aber George Johnson ist keine Figur aus einer Filmkomödie. Er hat wirklich gelebt, ebenso wie alle anderen, die hier beerdigt sind. Zum Beispiel Will DeLoge, der beim Kartenspiel getötet wurde. Verone Gray, der Selbstmord begangen hat. Holo Lucero, umgebracht von Indianern. John Heath, aus dem Gefängnis gezerrt und vom Mob gelyncht. Viele, viele Tote, deren Namen niemand mehr kennt und deren Grabkreuze nur die Todesursachen vermerken. Erschossen. Von Apachen getötet. Ermordet. Ertrunken.
Im Unterschied zu zahlreichen angeblich historischen Gebäuden in Tombstone ist der Friedhof echt. Wild war der Westen. Romantisch war das Leben nicht. Nur wenige Frauen sind hier beerdigt. »Margarita – stabbed by Gold Dollar, erstochen von Gold Dollar«. Und die Bordellbesitzerin Ah Lum. Spitzname: China Mary.
Der Goldrausch und der Bau der ersten transkontinentalen Eisenbahn, für den viele Arbeitskräfte gebraucht wurden, hatte von Mitte des 19. Jahrhunderts an zahlreiche Chinesen nach Amerika gelockt. Bis in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts waren sie eine der am stärksten diskriminierten Minderheiten in den USA – aber einigen gelang es dennoch, ihr Glück zu machen. So auch Ah Lum, die nicht nur die inoffizielle Herrscherin des Rotlichtdistrikts von Tombstone war, sondern sich auch erfolgreich als Arbeitsvermittlerin und Geldverleiherin sowie als Betreiberin eines Glücksspieletablissements betätigte. Die Chinesin war eine mächtige und angesehene Frau, die trotz ihres ausgeprägten Geschäftssinns als ausgesprochen warmherzig galt. Als sie 1906 im Alter von 67 Jahren an Herzversagen starb, gab ihr fast die ganze Stadt das letzte Geleit.
Ah Lum ist eine Ausnahme. Alt wurde kaum jemand in Tombstone. Das Gräberfeld ist ein Acker der enttäuschten Hoffnungen, der zerstörten Lebensentwürfe und der unerfüllten Träume.
Lebensentwürfe werden auch heute noch zerstört. Im Regelfall auf weniger dramatische, aber nicht auf weniger traurige Weise. Einige Kilometer vor Safford, südwestlich der Pinaleno Mountains, veranstaltet Linda Moore einen Garage Sale. Sie verkauft nicht aus dem Überfluss heraus einiges, was ihr lästig geworden ist. Sie verkauft Gebrauchsgegenstände. Einen Dampfkochtopf. Teller und Gläser. Werkzeug. Eine Leiter, eine Schubkarre. Man müsste kein Wort mit Linda Moore in Arizona und mit Laura Dutter-Nelson in Wisconsin geredet haben – ein einziger Blick auf ihre privaten Flohmärkte genügte, um die sozialen Unterschiede zwischen beiden Frauen zu erkennen.
Laura Dutter-Nelson ist College-Absolventin, und ihr Mann verdient so viel, dass sie nicht allein aus materiellen Gründen berufstätig zu sein braucht. Linda Moore arbeitete 15 Jahre lang in der Delikatessen-Abteilung eines Supermarkts. »Ich habe mich nie krankgemeldet, niemals«, erzählt sie über diese Zeit. Dann kam der 13. September 2005. Linda stürzte während ihrer Schicht und zog sich eine schwere Knieverletzung zu. »Seither kann ich nicht mehr lange stehen, nicht schwer heben, keine Treppen steigen.«
Die 54-Jährige läuft an Krücken, bewegt sich mühsam, hinkt. Nach dem ersten Sturz lief sie von Arzt zu Arzt. Fest stand bald: Sie brauchte eine Operation. Was nicht feststand: Wer dafür zahlen muss. Der Arzt der Berufsgenossenschaft meinte, die schwerwiegenden Folgen des Sturzes seien auf eine Vorerkrankung zurückzuführen. Das würde
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