Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
nicht die Angst, dass die Mexikaner den Leuten in den USA die Arbeit wegnehmen. Das ist nicht wie in Phoenix oder so.«
Im Rahmen eines kleinen Grenzverkehrs können die Einwohner der Stadt ziemlich mühelos hin- und herwechseln. Nur ins Landesinnere dürfen sie nicht weit reisen. Die bedrohlichen Folgen des Wohlstandsgefälles zwischen Mexiko und den USA spielen erst einige Kilometer nördlich von Nogales eine Rolle: Hunderttausende illegaler Grenzgänger riskieren jedes Jahr den Tod durch Hitze, Durst und Schlangenbisse in unwegsamem Gelände, um den strengen Kontrollen auf den Straßen zu entgehen. Aber auch in Nogales gilt das geschriebene Gesetz oft weniger als die Gesetze des Existenzkampfes. »Natürlich nutzen Mexikaner die Chance, illegal hier zu arbeiten«, erklärt Melisa und zuckt die Schultern. »Was soll´s.«
Die entspannte Haltung ist wenig überraschend. Schließlich ist es die Verwandtschaft, die zu Besuch kommt. Gerade mal sechs Prozent der Einwohner im US-Teil von Nogales sind nicht mexikanischen Ursprungs. Die Stadt sieht anders aus als andere Orte in den USA. Auffallend wenig Fahnen wehen hier. Die meisten Gebäude sind ein bisschen heruntergekommen. Billigläden beherrschen auch im Zentrum das Bild, neben riesigen Parkplätzen für Tagesausflügler nach Mexiko. Der Strom fließt in beide Richtungen. Ohne die Käufer aus dem Nachbarland würde die Stadt den größten Teil ihrer Einnahmen aus Umsatzsteuern verlieren. Das Durchschnittseinkommen in Nogales ist nur halb so hoch wie im übrigen Arizona, allerdings kosten auch Reihenhäuser nur die Hälfte. Wenn man gerade erst aus dem riesigen Phoenix und dem schicken Tucson gekommen ist, fühlt man sich bereits diesseits der Grenze wie in der Dritten Welt.
Melisa Woolfolk gehört zu denen, die es schon jetzt weit gebracht haben – und sie will noch höher hinaus. Die 31-Jährige verdient als Sekretärin bei der Feuerwehr 30000 Dollar im Jahr, dreimal so viel wie Durchschnittsverdiener in dieser Stadt. Außerdem studiert sie politische Wissenschaften in Tucson und würde langfristig gerne Juristin werden. Der typische Weg einer jungen Frau aus Nogales ist das nicht. »Du findest hier niemanden sonst, der so ist wie ich«, sagt die auffallend schöne Studentin mit den langen, schwarzen Locken, die eher wie ein junges Mädchen wirkt. Vor allem wegen ihrer überschäumenden Energie, um die sie manche 20-Jährige beneiden dürfte. »In der Schule waren auch meine Klassenkameradinnen noch sehr engagiert. Dann haben sie alle das Engagement irgendwie verloren. Das einzige Ziel für ein Mädchen ist Heirat und die Gründung einer Familie.«
Melisa ist unverheiratet, und ihr kann niemand unterstellen, dass sie nicht bereit wäre, sich zu engagieren. Ich lerne sie kennen, als sie abends an der Ecke eines großen Einkaufszentrums steht und Vorübergehende anspricht. Sie sammelt Unterschriften für die Abwahl des Bürgermeisters. Vetternwirtschaft, Gewerkschaftsfeindlichkeit und allgemeine Unfähigkeit wirft sie ihm vor.
Den Feuerwehrleuten seien ihre Zulagen gekürzt worden: »Ich habe gestandene Männer gesehen, die weinend ihre Frauen angerufen und gesagt haben, dass sie den Kredit für ihre Häuser nicht mehr zahlen können. Weil plötzlich 200 oder 300 Dollar weniger auf dem Gehaltsscheck waren.« Melisa arbeitet gerne als Sekretärin bei der Feuerwehr. »Ich habe da gewissermaßen 48 große Brüder. Das mag ich. Und ich kann es nicht leiden, wenn man meine Brüder schlecht behandelt.« Risikolos ist ihre Parteinahme nicht: »Man hat mir und anderen gedroht, dass wir gefeuert werden, wenn wir diese Unterschriftenaktion unterstützen. Aber es ist unser verfassungsmäßiges Recht, uns daran zu beteiligen.«
Die Liste der Unterschriften, die sie mir zeigt, ist recht lang. Dennoch wird es nicht zu einem Abwahlverfahren des Bürgermeisters kommen. Sechs Tage nach diesem Gespräch stirbt der erst 38-Jährige überraschend an Herzversagen.
In Melisa Woolfolk lassen sich die Chancen und auch die Probleme von Parallelgesellschaften wie unter einem Mikroskop besichtigen. Sie ist in beiden Welten fest verankert: im hispanischen, überwiegend ärmlichen Teil der US-Gesellschaft und in jenem Teil, der gelegentlich euro-amerikanisch genannt wird und stolz auf die Pioniere der ersten Stunde ist. Diese doppelte Identität ist wunderbar und schrecklich zugleich. »Ich habe sehr, sehr gewichtige Gründe dafür, hierzubleiben – und sehr, sehr gewichtige Gründe
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