Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
dafür, die Stadt zu verlassen.«
In Nogales ist sie verwurzelt. »Mein Großvater war hier Bürgermeister, meine Eltern leben hier. Den Sinn für Familie und Gemeinschaft – den würde ich vermissen, wenn ich wegginge.« Andererseits macht ihr Bekanntenkreis sie wütend. Nicht gelegentlich, sondern täglich. »Du läufst gegen diese Wand von Opposition. Nicht einmal Aggression. Sondern schlichte Ignoranz.« Gemeint ist, wie sie ausdrücklich betont, nicht Unkenntnis. Sondern Gleichgültigkeit: »Dieses ›Es ist mir egal‹.« Das sei die allgemeine Haltung. »Die Antwort auf alles und jedes: ›Ich will da nicht reingezogen werden‹. Das ertrage ich nicht. Öffentlicher Nahverkehr? Nicht mein Problem. Gesundheitswesen? Nicht mein Problem. Von wegen. Es geht alle an.« Die Mentalität der Latinos sei schauerlich rückständig, vor allem hier im Grenzgebiet.
Die Strenge, mit der Melisa Woolfolk über die hispanische Mentalität spricht, missfällt mir. Ich tue mich schwer mit solchen pauschalen Urteilen, und ich möchte mich damit auch gar nicht leichttun. Zwischen Ressentiment und nüchterner Analyse verläuft bei diesem Thema ein sehr schmaler Grat.
Vor unserem Gespräch hatte ich ein Zimmer im Best Western Motel gebucht, allerdings noch nicht bezogen. Ich kann es auch nicht beziehen. Die Rezeptionistin scheitert trotz erkennbar redlicher Versuche bei ihren Bemühungen, eine Schlüsselkarte so zu programmieren, dass sich die Tür damit öffnen lässt. Umzug ins benachbarte Americana. 55 Dollar die Nacht, in den USA ein Durchschnittspreis für ein ordentliches Motel.
Die Tapete wirft Blasen – jedenfalls dort, wo sie nicht in Fetzen von der Decke hängt. Die einzige Glühbirne des Raumes spendet ein zu düsteres Licht, um die Tastatur des Laptops erkennen zu können. Das Waschbecken ist zerbrochen, die Badewanne so verrostet, dass ich sie nicht benutzen mag. Internet, wie versprochen? Fehlanzeige. »Wir müssen dafür immer ein paar Zimmer ausprobieren«, erklärt der freundliche und sehr langsame Hotelangestellte, der mit mir gemächlich den Flur entlanggeht, als ich betone, dass ich auf das Netz nicht verzichten will. Alles Zufall. Hoffe ich. Als Beleg für die Analyse von Melisa Woolfolk möchte ich das nicht werten. Ist das nun gebotene Vorsicht gegenüber Verallgemeinerungen oder ein Hinweis darauf, dass ich meinen Blick auf die Welt nicht durch die Realität verändern lassen will?
Am nächsten Tag mache ich einen Abstecher in den mexikanischen Teil der Stadt. Melisa verbringt dort mindestens einen Abend in der Woche: »Es gibt herrlichen Fisch und viel bessere Bars und Restaurants als bei uns. Es ist einfach mehr los.« Bei der Ausreise aus den USA werde ich gar nicht kontrolliert, bei der Wiedereinreise flüchtig. Genau wie alle anderen Leute, die vor und hinter mir in der Schlange stehen. Der Grenzübertritt ist derart unkompliziert, dass ich ihn gleich zweimal hintereinander mache – weil mir bei der ersten Rückkehr in die USA auffällt, dass ich vergessen habe, die Möglichkeit des Einkaufs zollfreier Zigaretten zu nutzen. Das lässt sich ja nachholen. Mit einem Zeitaufwand von weniger als zehn Minuten.
Das Frühstück in Mexiko ist köstlich. Frischer Orangensaft, frische Obstplatte. Billig. Die meisten Tagesausflügler aus den USA scheinen andere Ziele zu haben. Unmittelbar hinter der Grenze gibt es eine Fülle von Zahnarztpraxen. In weiten Teilen der USA lässt sich der soziale Status am Zustand der Zähne ablesen. Wer in Nogales lebt, hat offenbar eine preiswerte Alternative zu verfaulten Stümpfen im Mund. Ja, der Strom der Grenzgänger fließt in beide Richtungen. Hier.
Etwa 30 Kilometer nordwestlich von Nogales werde ich auf einer abgelegenen Landstraße von einer Grenzpatrouille angehalten. Ich bin 50 Jahre alt, weiß, eine Frau und ich bin allein unterwegs. Ein kurzer Blick ins Wageninnere genügt den Beamten, um mich weiterzuwinken. Die typischen Verdächtigen sehen anders aus. Ist das Rassismus oder Vernunft? Ich habe ja wirklich niemanden im Kofferraum.
Knapp eine Autostunde von Nogales entfernt werden Besucher in die Vergangenheit zurückversetzt – in jene Zeit, als der Westen tatsächlich noch wild war. Tombstone, Ende des 19. Jahrhunderts ein rasch wachsender Ort in der Nähe einer Silbermine, hätte eigentlich wie so viele andere Siedlungen in Arizona zur Geisterstadt werden müssen, sobald der Reichtum erschöpft war. Aber die Stadt ist, wie sie von sich selbst werbend
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