Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
andere, lassen mich gleichgültig. Aber niemals zuvor habe ich tief im Inneren gespürt, dass die berühmten Toten, an die wir uns heute noch erinnern, einmal tatsächlich lebendige Menschen gewesen sind. Mit Ängsten, Freuden, Schwächen. Dass ihnen ihre Bedeutung für die Nachwelt – jedenfalls meistens – weniger wichtig gewesen sein dürfte als Alltagsärger. Dass sie manchmal lustig waren, manchmal wütend. Oder gelangweilt, verliebt, einsam.
Die Gespräche mit John Steinbeck, die ich unterwegs geführt habe, hätten bislang ebenso gut Auseinandersetzungen mit der Hauptfigur eines Romans sein können. Erst hier, beim Anblick von Rocinante, versteht mein Gefühl, was bis dahin nur mein Kopf wusste: dass John Steinbeck tatsächlich gelebt hat. Dass er nun schon seit fast 40 Jahren tot ist und dass ich ihn niemals mehr werde treffen können. Nicht einmal theoretisch. Gänzlich überraschend überfällt mich tiefe Trauer. Als sei ein guter Freund gestorben.
Das mag sich vermessen anhören, ändern kann ich es nicht. Vorsichtig drehe ich mich um, und als ich ziemlich sicher bin, dass gerade niemand herschaut, streichle ich Rocinante zweimal über den Kotflügel. Dabei komme ich mir albern vor. Aber was sein muss, muss sein.
Die Nacht verbringe ich in Monterey. Von der »Straße der Ölsardinen«, der Cannery Row, der John Steinbeck ein literarisches Denkmal gesetzt hat, ist nur der Name geblieben – und den gab es in der Zeit, in der sein Roman spielt, nur als Spitznamen. Offiziell hieß die Cannery Row damals noch Ocean View Avenue. Dort, wo bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts die Konservenfabriken standen, reihen sich heute Andenkenläden, Fischrestaurants und Modegeschäfte aneinander. Das Städtchen ist hübsch herausgeputzt, nicht kitschig, sondern nett.
Steinbeck hat den Wandel noch erlebt, und er hat ihm nicht gefallen. Dabei hat er selbst erkannt, dass er der Halbinsel von Monterey »unrecht« tat: »Sie ist ein schöner Ort, gut verwaltet und fortschrittlich.« Aber sie war eben nicht mehr sein Zuhause, nicht mehr der Ort seiner Erinnerungen. »Meine Abreise war eine Flucht.« Was wohl auch damit zusammenhing, dass sich der überzeugte Demokrat – wieder einmal – mit seinen republikanisch gesinnten Schwestern zankte: »Pardon wurde nicht gegeben und nicht erbeten.«
Ich habe in Monterey keine Verwandtschaft und ich fliehe nicht, sondern ich fahre am nächsten Tag in Richtung Osten. Der weite Rückweg hat begonnen. Vorbei geht es an den riesigen Ölfeldern im Gebiet um Lost Hills. Selbst wenn man nie etwas von knappen Ressourcen und der drohenden Energiekrise gehört hätte: Hier käme noch dem unbedarftesten Reisenden der Verdacht, dass im Öl wohl kaum die Zukunft liegt. Kilometer um Kilometer pressen Tausende und Abertausende rostiger Pumpen, die an Metallskulpturen urzeitlicher Tiere erinnern, die letzten Vorräte aus der Erde. So weit das Auge reicht. Um 23 Prozent ist die Rohölproduktion in Kalifornien seit 1996 gefallen, während zugleich der Verbrauch steigt. Längst vergangen sind die Tage, in denen die Region sich selbst versorgen konnte. Sie werden nicht wiederkommen. Jedenfalls nicht mit Öl.
In der Mojave-Wüste wäre man wieder einmal schlecht beraten, wollte man den eigenen Sinnen trauen. Wüsste man es nicht besser: man würde in weiten Gebieten nicht ahnen, dass man sich in einer Wüste befindet. Riesige Blumenplantagen und Getreidefelder liegen an der Straße. »Food grows where water flows – Nahrung wächst dort, wo es Wasser gibt« steht auf großen Schildern.
Die künstliche Bewässerung der Wüste, in die wegen des Bevölkerungsanstiegs immer mehr Siedler drängen und in der immer neue Städte gegründet werden, ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, was der Mensch einer feindlichen Umgebung abtrotzen kann. Einerseits. Andererseits muss dafür Grundwasser heraufgepumpt werden. Umweltschützer warnen vor der Zerstörung des sensiblen Ökosystems der Mojave-Wüste mit ihren vielen berühmten Joshua Trees, einem Agavengewächs, das bei uns als Yuccapalme bezeichnet wird. Zu der das »Death Valley« gehört, in dem schon einmal eine Temperatur von 56,7 Grad Celsius gemessen wurde. Und das luxuriöse Spielerparadies Las Vegas mit seinen Springbrunnen, das ich dieses Mal nicht besuchen werde, weil es nicht in einem Staat am Rande der USA liegt, sondern im angrenzenden Binnenstaat Nevada.
Stattdessen übernachte ich in dem kleinen Mojave, benannt nach der riesigen Wüste,
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