Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
ich auch andernorts in Kalifornien zu spüren glaube: Die Überzeugung, dieser Teil des Landes sei ohnehin wunderbar und von jeher das Ziel so vieler Sehnsüchte ganz unterschiedlicher Menschen, dass man sich gar nicht weiter anstrengen müsse.
Eine derartige Selbstzufriedenheit verstimmt. Selbst ich als Reisende, die mit der sich verschlechternden Infrastruktur allenfalls am Rande zu kämpfen hat, bin jetzt dankbar für den Abschied von Kalifornien. Zu mühsam ist es, hier in ländlichen Gebieten ein Motel mit Internetverbindung zu finden. Eine geöffnete Werkstatt. Jemanden, der auf eine Frage freundlich Auskunft gibt. All das gibt es. Aber eben nicht so oft wie andernorts in den USA. Der goldene Staat, wie er sich selbst nennt, wirkt schlecht gelaunt.
Du bist Orplid, mein Land? Aus der Nähe bekanntlich nie. Aber die Ernüchterung in Kalifornien geht über die Erkenntnis hinaus, dass es ein Paradies auf Erden nicht gibt. Hier scheint gerade ein langer Traum zu Ende zu gehen.
Die alte Route 66 führt auch durch Arizona. Dieser Staat muss sich um den Tourismus keine Sorgen machen, allein der Grand Canyon zieht jedes Jahr etwa fünf Millionen Besucher an. Aber ein bisschen Geld lässt sich ja auch mit weniger bedeutenden Attraktionen einnehmen – wenn man denn bereit ist, sich etwas Mühe zu geben und für sich zu werben. In der Kleinstadt Kingman ist man dazu bereit. Hier lässt sich ein liebevoll eingerichtetes Museum besichtigen, das die Geschichte der Route 66 erzählt. Immerhin 100000 Reisende kommen jährlich hierher.
Wieder einmal begegnet mir John Steinbeck. »Die Mutterstraße« hat er die 66 in seinem Roman Früchte des Zorns genannt, und das war nicht freundlich gemeint. Er nannte sie auch: »Die Straße der Flucht«. In der Zeit der Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Börsen 1929 und einer verheerenden Dürre zogen Hunderttausende in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Westen – nach Kalifornien. Dort waren die armen Verwandten nicht willkommen. Nur acht Prozent der Neuankömmlinge durften bleiben. Man muss es den Amerikanern in den USA lassen: Sie diskriminieren nicht. Die eigenen Landsleute werden auch nicht besser behandelt als ausländische Immigranten, wenn sie den Wohlstand bedrohen.
Die Route 66 wäre allerdings wohl nie zum Mythos geworden, hätten sich auf ihr vor allem Szenen der enttäuschten Hoffnungen, der Armut und der Verzweiflung abgespielt. Im Museum hängen auch Bilder von Aufschwung und guten Tagen. Die untere Mittelschicht fröhlich und entspannt auf dem Weg in den Familienurlaub, den sie sich leisten konnte. Fotos aus den Fünfzigerjahren. Damals haben auch meine Eltern zum ersten Mal Urlaub in Italien gemacht – ihre Hochzeitsreise – und die Fahrt war seinerzeit noch etwas ganz Besonderes gewesen.
Ganz entspannt ziemlich viel Geld für etwas ausgeben zu können, was nicht lebensnotwendig ist: Das fing in Westdeutschland für breitere Schichten damals gerade erst an. Europa war vom Krieg zerstört. Die USA waren das nicht. Vielleicht ist seinerzeit bei uns das Gefühl entstanden, in den Vereinigten Staaten sei doch alles im Grunde genau wie bei uns – nur besser. Die Kühlschränke seien eben größer und moderner. Mit der lockenden, aber unbekannten Neuen Welt der Vergangenheit hatte das Amerika-Bild der Fünfzigerjahre jedenfalls nichts mehr zu tun.
Amerika wird nicht kleiner. Es bleibt riesig. So vieles gibt es, was ich in Arizona gerne – oder gerne wieder einmal – anschauen würde. Aber allmählich habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft, zumal ich bald nur noch durch mir unbekanntes Terrain reisen werde. Also gebe ich Gas und fahre nach Süden. Zur mexikanischen Grenze. Durch eine Landschaft, die zum Schönsten gehört, was ich in den USA zu sehen bekomme – und in der alles noch größer zu sein scheint als anderswo. Tiefe, dramatische Schluchten, riesige, waldbedeckte Bergketten, Wüsten mit Tausenden von bizarr geformten Kakteenbäumen. Überall möchte ich bleiben. Nirgendwo darf ich bleiben.
Einen kurzen Zwischenaufenthalt lege ich wenigstens in der Nähe von Phoenix ein, an einem der ungezählten Freilichtmuseen, die von der Geschichte der Pioniere erzählen. Vor mir geht eine Schulklasse. Die Kinder sind ungefähr zehn Jahre alt, sehr viele hispanischer, viele andere asiatischer Herkunft. Die Lehrerin weist auf die Steine am Wegesrand hin: »Seht ihr das? Das ist Vulkangestein. Vor vielen, vielen Jahren war hier alles
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