Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
Verbüßung seiner Haft niederlässt, wird über dessen Identität und Strafregister informiert. In Connecticut habe ich auf einer Polizeiwache das Foto eines 80-jährigen schwarzen Mannes gesehen. Daneben stand: »Diese Person wird nicht von der Polizei gesucht.« Und: »Es besteht ein hohes Risiko, dass diese Person erneut Sexualstraftaten begeht.« Im Alter von 80 Jahren? Erstaunlich.
Ein weiteres Beispiel: In Kalifornien riskieren Straftäter seit 1994 nach der dritten Verurteilung lebenslange Haft, und zwar unabhängig von der Schwere der dritten Tat. Was unter anderem dazu führte, dass ein dreifacher Familienvater wegen des Diebstahls einiger Kindervideos nun den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen muss. Ob derlei drakonische Urteile die Gesellschaft übrigens tatsächlich sicherer machen, ist umstritten. Dramatische Verfolgungsjagden, bei denen Unbeteiligte gefährdet werden, haben jedenfalls zugenommen, seit viele Flüchtige befürchten müssen, für immer weggesperrt zu werden.
Weniger um Zweckmäßigkeit und Vernunft als um Prinzipien und vermeintliche Moral scheint es mir oft im Strafrecht und in der Strafrechtspraxis der Vereinigten Staaten zu gehen. Spiegelt sich das auch an der Basis wider, in einem Kleinstadtgericht? Oder setzen sich hier, wo keine Kameras stehen und keine Wählerstimmen zu gewinnen sind, gesunder Menschenverstand und Menschlichkeit häufiger durch? Das lässt sich nach einem einzigen Besuch eines Gerichtssaales nicht beurteilen. Aber den Ton kann man hören bei diesen Prozessen, bei denen es um Drogendelikte, Diebstahl und um einen Überfall geht und die in rascher Folge hintereinander weg verhandelt werden. Die meisten heute ohne Urteile, nur mit Zeugenaussagen. Der Ton ist ernst, undramatisch und höflich. Auch gegenüber den Angeklagten.
Als Beobachterin verstehe ich höchstens die Hälfte. Es ist deutlich zu spüren, dass Richter, Staatsanwalt und Verteidiger einander gut kennen – häufig genügen ihnen Stichworte, um sich über ein prozessuales Vorgehen zu verständigen. Ich wünsche den Angeklagten, dass wenigstens sie mitbekommen, worum es jeweils geht. Sicher bin ich nicht. An diesem Tag bin ich die einzige Zuhörerin im Saal. Ob ich auf der Suche nach ihm sei, fragt mich der Anwalt, als das Gericht sich vertagt. Bisher war ich das nicht, aber die Idee ist eigentlich nicht schlecht. Zumal Lee Deschamps meine Reise interessant findet und große Lust hat, sich mit mir zu unterhalten. Ich begleite ihn zu seinem Büro, das einige Schritte vom Gericht entfernt liegt.
»Raten Sie mal, wer aus dem Gefängnis draußen ist?«, sagt er drinnen begeistert zu seiner Sekretärin und wirft mit Schwung einen Aktendeckel auf ihren Schreibtisch. Sie nennt fragend einen Namen – den richtigen – und lacht. Beide freuen sich. Ein junger Drogenabhängiger hat noch einmal eine Chance bekommen. Der Strafverteidiger hält nicht viel von Haftstrafen für Süchtige: »Gefängnis lehrt diese Leute gar nichts außer neuen kriminellen Methoden.« Viel sinnvoller und effizienter seien therapeutische Einrichtungen, auf Bewährung. »Ein Platz dort kostet 3000 Dollar im Jahr, ein Platz im Gefängnis das Zehnfache. Und über 90 Prozent werden nach der Therapie nicht rückfällig.« Das klingt für mich alles nach sehr gesundem Menschenverstand und sehr wenig martialisch.
Wollte man daraus allerdings schließen, der 65-Jährige sei ein Liberaler oder gar ein Linker, dann hätte man Lee Deschamps völlig missverstanden. »Ich bin ein Kind der Sechzigerjahre, und früher war ich ein flammender Liberaler«, erzählt er. Dann beweist er, dass der Mensch wandlungsfähig ist. Erziehungsanstalten, in denen man Jugendliche in eine »Scheißangst« versetzen sollte, hält er für eine gute Idee. Eine väterliche Tracht Prügel auch. Gegen Mütter, die ihre Kinder immer in Schutz nehmen, wettert er mit Inbrunst: »Diese Generation wird die größten Probleme der Menschheitsgeschichte haben – und ist am wenigsten darauf vorbereitet, sie zu bekämpfen. Wir ziehen eine Generation von narzisstischen Egoisten heran.« Paris Hilton sei keine schräge Ausnahmeerscheinung, sondern die Protagonistin ihrer Zeit.
Er habe kein Mitgefühl mit seinen Mandanten, sagt der Rechtsanwalt. »Das ist ja ohnehin das, was mit diesem Land nicht mehr stimmt: Man feiert die Opferhaltung. Statt dass man Leuten klarmacht, was persönliche Verantwortung bedeutet.« Als ich gerade anfange, Lee Deschamps herzlich unsympathisch
Weitere Kostenlose Bücher