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Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land

Titel: Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Gaus
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mehr verkaufen. Was sollen deren Eigentümer tun? Renovierungen lohnen sich nicht mehr, und sie wissen nicht, was sie sonst damit machen sollen. Also verfallen die Häuser.
    Shere Agnew ist bereit, mich durch die Stadt zu führen. Es wird ein deprimierender Spaziergang. Die Gebäude, von denen die meisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet wurden, zeugten einmal von Wohlstand und Optimismus. Säulen, Erker, Verzierungen. Hier hatten Bauherren einst Geld und Muße für ein wenig Luxus. Diese Zeiten sind längst vorbei.
    Der Friseursalon: zugenagelt. Die Bar ist trocken. Im Theater finden schon lange keine Vorstellungen mehr statt. Der Blumenladen führt keine Blumen, durch die Fenster sieht man Gerümpel. Das Bekleidungsgeschäft: geschlossen. An der Mauer der Autowerkstatt blättert die rote Farbe ab. Ein Schild hängt noch daran: »Kein Kredit«. Vor vier Jahren hat der Mechaniker aufgegeben. Einen Supermarkt? Gibt es nicht. Das Gemeindezentrum, in dem bis vor Kurzem die einzigen Veranstaltungen für Jugendliche und für Senioren stattfanden, hat vor acht Monaten seine Pforten geschlossen.
    Geht es Texas also schlechter, als die Zahlen verraten? »Nein«, erklärt Shere Agnew. Gerade der Fortschritt sei es, der über Jahrzehnte hinweg das Absterben kleiner Städte befördert habe. Strukturwandel sei das Stichwort, nicht etwa Wirtschaftskrise. »Die Verbesserung des Straßennetzes und die Tatsache, dass alle auf dem Land inzwischen Autos haben, führen dazu, dass die Leute zum Einkaufen lieber in das nächste größere Zentrum fahren, wo sie alles auf einmal bekommen und wo sie nicht von Tür zu Tür gehen müssen.« Wal-Mart feiert Triumphe. »Der kleine Einzelhändler kann nicht nur von dem schnellen Laib Brot am Morgen oder von der Tüte Milch am Nachmittag überleben. Macht also dicht.«
    Bis zum Zweiten Weltkrieg war Texas ein Agrarland. Heute wohnen mehr als 80 Prozent der über 23 Millionen Einwohner in Städten, allein die Hälfte in den Ballungsräumen Dallas und Houston. Was bedeutet diese Entwicklung für eine Frau wie Shere Agnew? Sie zuckt die Schultern. »Ich habe ja keine Alternative.« Sie hat keine Möglichkeit, wegzuziehen – schließlich kann sie sich die geerbte Ranch nicht auf den Rücken binden. So wenig wie ihre beiden Einfamilienhäuser, in denen niemand wohnen will. Die Folgen sind weitreichend: »Seit 24 Jahren bin ich Single. Hier wohnt einfach niemand, den ich treffen könnte.«
    Bedeutet es der Rancherin irgendetwas, dass sie Bürgerin der derzeit einzigen Weltmacht ist? Shere lacht bitter auf. Diese Frage ist weit, sehr weit von ihren Alltagsproblemen entfernt. Dabei interessiert sie sich durchaus für Politik. Die Demokraten hat sie stets gewählt – schon wieder ist eine Hoffnung zerstoben, eine begeisterte Anhängerin von George W. Bush gefunden zu haben –, aber sie weiß noch nicht, ob sie an der nächsten Präsidentschaftswahl überhaupt teilnehmen wird.
    Wen sähe sie denn gerne im Weißen Haus? »Charles Hearst. Der hat mehr gesunden Menschenverstand als irgendjemand sonst.« Dessen Chancen stehen nicht gut. Er ist ein Nachbar von Shere Agnew und er bewirbt sich gar nicht um das höchste Amt im Staat. Berufspolitiker gehen Shere Agnew auf die Nerven: »Alle reden immer nur schlecht übereinander. Statt dass sie sich mal fragen, was gut für unsere Nation wäre.« Das höre ich ja nicht zum ersten Mal auf dieser Reise. Der Wunsch nach einem Ende dessen, was in Deutschland gerne abfällig »Parteiengezänk« genannt wird, ist in den Vereinigten Staaten weitverbreitet.
    Groß ist auch die Sehnsucht nach Helden, die sich verehren lassen. Wenn man sie in der Gegenwart nicht findet, dann doch wenigstens in der Vergangenheit – selbst wenn die dafür manchmal etwas eigenwillig interpretiert werden muss. Das Alamo inmitten der heutigen Großstadt San Antonio ist das berühmteste Heldendenkmal an historischem Ort in den USA. Jedes Jahr pilgern 2,5 Millionen Besucher zu dem ehemaligen spanischen Missionsgebäude, das später zum Fort ausgebaut wurde und bis heute als steinernes Symbol für Freiheitsdurst und Opferbereitschaft gilt.
    Auf der Fahrt dorthin komme ich an einem Gedenkstein für ein anderes ehemaliges Fort vorbei: Old Fort Mason, das »half, die texanische Grenze vor Indianern zu schützen«, wie ich lese. Der neue Ton des Respekts gegenüber den Leuten, die hier als Erste zu Hause waren, hat sich, wie gesagt, noch nicht überall herumgesprochen. Im Alamo hingegen

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