Auf der Suche nach Amerika - Begegnungen mit einem fremden Land
atmet alles Ehrfurcht denen gegenüber, die hier ums Leben gekommen sind.
Es waren ungefähr 200 Männer. Im texanischen Unabhängigkeitskampf gegen Mexiko deckten sie in diesem Fort vom 23. Februar bis zum 6. März 1836 den Rückzug der Aufständischen gegen eine Übermacht von mehreren tausend mexikanischen Soldaten. Die Texaner wussten, dass sie sterben würden – und sie starben. Wer nicht im Kampf fiel, wurde später in Gefangenschaft hingerichtet, so auch der legendäre Davy Crockett. Die Atempause, die dieser Widerstand den texanischen Rebellen verschaffte, ermöglichte es ihnen, ihre Truppen zu sammeln und einige Wochen später das kriegsentscheidende Gefecht zu gewinnen. Unter dem Schlachtruf: »Remember the Alamo – erinnert euch des Alamo!«
Texas ist der einzige Bundesstaat der USA, der vor dem Beitritt zur Union einige Jahre unabhängig gewesen ist und deshalb das Recht hat, jederzeit auch wieder auszutreten. John Steinbeck: »Wir haben sie so oft mit ihrem Austritt drohen hören, dass ich einen enthusiastischen Verein gegründet habe – ›Die amerikanischen Freunde der Loslösung von Texas‹. Das macht dem Thema sofort ein Ende. Sie wollen sich loslösen können, aber sie wollen beileibe nicht, dass irgendjemand möchte, dass sie es tun.«
Am Alamo, dem »Schrein der texanischen Freiheit«, ist von Loslösung nicht die Rede. Allerdings weht neben dem Eingang vor der ehemaligen Kapelle der Mission nur die texanische Fahne, die US-Flagge steht in diskreter Entfernung auf einer Grünfläche.
Nein, Niederlagen werden in den USA nicht grundsätzlich totgeschwiegen oder verdrängt. Dann nicht, wenn sie Teil einer Erfolgsgeschichte sind. Kein Ereignis aus dem Vietnamkrieg hat es zu einem stolzen Symbol für irgendetwas gebracht – anders als das Alamo oder auch der japanische Überfall auf Pearl Harbour, der die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg hineinzog.
In der ehemaligen Kapelle vom Alamo müssen die Männer ihre Hüte abnehmen. Wir alle werden zur Ruhe ermahnt. Ein Informationsfilm, der im Museum gezeigt wird, ist so eindeutig antimexikanisch, dass eine Familie aus Puerto Rico, die vor mir sitzt, immer wieder hell auflacht. »Typisch«, sagt die Mutter später. »Jeder, der aus dem Süden kommt, ist ein Mini-Napoleon. Sehr parteiisch.« Antonio Santa Anna, der befehlshabende General beim Angriff auf das Alamo, war kein sympathischer Zeitgenosse. Aber auch ich finde bemerkenswert, dass genau jene Eigenschaften, die bei US-Soldaten als heroisch verklärt werden, bei ihm als Beweis für Sturheit gelten.
Wenn man sich Zeit für das Museum nimmt, relativiert sich die Legende des unbändigen Freiheitsdurstes der Texaner ein wenig. Alles begann damit, dass der US-Kongress 1820 den Landerwerb auf Kredit verbot und verlangte, dass neue Siedler mindestens 32 Hektar kaufen mussten. Mexiko bot erheblich günstigere Bedingungen an. Die Folge: ein Ansturm von Immigranten aus den Vereinigten Staaten nach Texas. Als ihre Zahl 1830 auf 30000 angeschwollen war, schwante mexikanischen Politikern und Beamten, dass sie ein Problem hatten. Was taten sie? Sie schlossen die Grenze für Einwanderer – immerhin bauten sie keinen Zaun – und verboten die Einfuhr von Sklaven. Erst danach wurde den Texanern bewusst, dass sie dringend das Joch der mexikanischen Diktatur abschütteln wollten.
Heute sind wieder mehr als ein Drittel der Einwohner von Texas hispanischer Herkunft. Diese Entwicklung sorgt nun wiederum in den USA für erhebliche Nervosität.
Am Ausgang des Museums werden Besucher mit einer Frage konfrontiert: »Warum heute noch des Alamo gedenken?« Antwort: Die texanische Revolution führte zur Unabhängigkeit von Mexiko. 1845 wurde Texas schließlich der 28. Bundesstaat der Union. Die Folge war der Krieg mit Mexiko. Als Ergebnis dieses Krieges fielen die Gebiete des heutigen New Mexico, Arizona, Nevada, Utah und Kalifornien an die Vereinigten Staaten. »Diese Kette von Ereignissen hat die USA als Kontinentalmacht etabliert und ermöglichte es der Nation, die Weltmacht zu werden, die sie heute ist.« Wenn man dieser Argumentation folgt, dann führt eine direkte Linie vom Alamo zum Zerfall der Sowjetunion. Oder so. Die Geschichtsforschung ist doch eine subjektive Wissenschaft.
Abends bin ich dann mitten in der Gegenwart. An der Bartheke eines Lokals mit dem einladenden Namen »Klapperschlange« nördlich von Austin komme ich mit einem verliebten Pärchen und der Kellnerin ins Gespräch, weil wir
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