Auf der Suche nach dem Auge von Naga: Roman (German Edition)

hat, wie ihn die Vergangenheit gelehrt hat, die Umstände zu beurteilen, werden Sie es auch tun. 1863 werden Sie beschließen   – haben Sie beschlossen   –, nicht preiszugeben, dass Sie mehrere Jahre in einer vom Krieg zerrissenen Zukunft überlebt haben, wo Sie den Tod des britischen Empires bezeugen mussten. Unsere derzeitigen Geschichtsbücher enthalten nichts, was Licht darauf wirft, weshalb Sie diese Vorgehensweise gewählt haben. Über Sie verfasste Biografien erwähnen nicht einmal, dass Sie der Agent des Königs waren, denn das galt als Staatsgeheimnis. Stattdessen geht aus diesen Biografien hervor, dass Sie die zweite Hälfte Ihres Lebens still verbracht und sich akademischen Unterfangen gewidmet haben. Das stimmt nur teilweise. In Wirklichkeit sind Sie ins Exil nach Triest an der nordöstlichen Küste von Italien gereist und haben von dort aus beobachtet, wie die Saat des Krieges keimte. Sie sind 1890 in jener Stadt gestorben, zehn Jahre bevor das Großdeutsche Reich in seine Nachbarländer einmarschierte.«
    Sir Richard Francis Burton befeuchtete mit der Zunge die Lippen. Er hob eine Hand und legte die Fingerspitzen an die tiefe, gezackte Narbe auf seiner linken Wange, die ihm ein Somali-Speer im Jahre 1855 geschlagen hatte.
    »Muss ich das so verstehen, dass du mir die Schuld am Krieg gibst?«, fragte er mit belegter Stimme.
    »Ja!«, gurgelte Palmerston.
    »Nein, ganz und gar nicht«, berichtigte Wilde. »Es ist falsch von den Menschen, Lord Palmerston zu verurteilen, und es ist falsch von Lord Palmerston, Sie zu verurteilen. Sie verkörpern nicht die Übel dieser Welt, Captain Burton   – Sie verkörpern Hoffnung.«
    »Weil du glaubst, dass ich die Geschichte verändern kann?«
    »So ist es. Lord Palmerston und ich wussten bereits, dass Crowley 1914 eine Anomalie in Afrika entdeckt hatte. Als Bertie Wells mir vor etwa achtzehn Monaten erzählt hat, dass er Ihnenbegegnet war, wurde uns klar, was die Anomalie war und wie man sie   – Sie   – einsetzen kann, um alles zu verändern.«
    »Also unabhängig davon, welche Umstände ich vorfinde, wenn ich ins Jahr 1863 zurückkehre: Du möchtest, dass ich irgendwie die Reaktionen unterdrücke, die mir meine eigene Vergangenheit eingeimpft hat? Dass ich ignoriere, was ich als mein besseres Wissen betrachte? Und dass ich«, er wandte sich Palmerston zu, »alles schildere, was ich in den vergangenen fünf Jahren hier gesehen habe?«
    »Erzählen Sie mir alles, Burton!«
    »Soll ich Ihnen sogar Ihren derzeitigen   … äh, Zustand beschreiben?«
    »Ich bestehe darauf. Ich hätte gern Gelegenheit, zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt mit etwas Würde eines natürlichen Todes zu sterben.«
    Burton seufzte. »Tut mir leid. Das wird nicht funktionieren.«
    »Warum nicht?«, fragte Wilde.
    »Ich will gerne tun, was du vorschlägst, und es könnte mir auch gelingen, eine Geschichte zu erschaffen, in der dieser Krieg nie stattfindet. In diesem Fall wird mir das Glück beschieden, in dieser Geschichte zu leben. Aber dir nicht. Hier wird sich nichts verändern. Du wirst nicht einfach verpuffen und in einer neuen Welt erwachen. Vielmehr wird eine neue Geschichte von dem Moment abzweigen, in dem ich meine Handlungen ändere, und sie wird parallel zu dieser verlaufen.«
    »Also gibt es keine Hoffnung für uns?«
    »Wenn ich richtig verstehe, wie die Zeit funktioniert, dann wäre die einzige Möglichkeit, statt der bevorstehenden Zukunft die Umstände zu verändern, in denen man existiert, irgendwie die Vergangenheit zu verändern, ohne die Zukunft zu verlassen   – als säße man auf einem Ast, den man hinter sich am Stamm absägt.«
    »Tun wir das nicht, indem wir diese Bitte an Sie richten?«
    »Eine andere Person zu bitten, eine Handlung vorzunehmen, ist nicht dasselbe, wie die Handlung selbst vorzunehmen.«
    »Damit legen Sie nahe, Captain, dass Zeit und Geschichte vollkommen subjektiv sind.«
    »Ja, das tue ich.«
    Es klopfte an der Tür. Sie öffnete sich, und der Massai, der als Wächter davorstand, steckte den Kopf herein. »Ihr müsst weg von hier«, verkündete er. »Sie sind unterwegs. Sie wollen Lord Palmerston auf die Britannia bringen.«
    Wilde nickte, und der Wächter zog sich zurück.
    »Lasst nicht zu, dass sie mich von hier wegholen!«
    »Die Stadt wird demnächst zerstört, Sir«, erklärte Wilde. »Ein paar Auserwählte werden versuchen, in der Kugel zu entkommen. Wie es scheint, werden Sie darunter sein.«
    Palmerston schwieg einen