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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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und beinahe auch zu verstehen, daß es ihr ganz unnütz schien, es mit solcher Heftigkeit zu bekämpfen. Zudem fand sie es nicht sehr geschmackvoll von Monsieur Legrandin, dessen Schwester in der Nähe von Balbec mit einem normannischen Edelmann verheiratet war, sich zu derart scharfen Attacken gegen den Adel hinreißen zu lassen, wobei er sogar so weit ging, der Revolution vorzuwerfen, daß sie nicht alle aufs Schafott geschickt habe.
    »Seid gegrüßt, meine Freunde!« sagte er jedesmal, indem er auf uns zukam. »Sie haben Glück, daß Sie hier so ausgiebig leben können; ich muß morgen wieder nach Paris in meinen Winkel.
    »Oh«, fügte er dann mit einem sanft ironischen, resignierten, etwas zerstreuten Lächeln hinzu, das ihm eigen war, »gewiß gibt es in meinem Haus alle möglichen unnützen Dinge. Es fehlt nur das, was notwendig ist: ein großes Stück freier Himmel wie hier. Versuchen Sie immer ein Stück Himmel über Ihrem Leben zu haben, mein Junge«, fügte er zu mir gewandt hinzu. »Sie haben eine anmutige Seele, von seltener Beschaffenheit, eine Künstlernatur; lassen Sie sie nicht darben an dem, was sie braucht.«
    Als bei unserer Rückkehr meine Tante fragen ließ, ob Madame Goupil zu spät zur Messe gekommen sei, waren wir außerstande, sie aufzuklären. Vielmehr steigerten wir noch ihre Aufregung, indem wir erzählten, ein Maler arbeite in der Kirche an einer Kopie des Fensters Gilberts des Bösen. 2 Françoise, die sofort zum Krämer geschickt wurde, kehrte unverrichteterdinge zurück, daThéodore, dem sein Doppelberuf als Vorsänger, als dem es ihm zum Teil oblag, die Kirche in Ordnung zu halten, und als Laufbursche in der Gemischtwarenhandlung durch die Fülle der daraus sich ergebenden Verbindungen zu allen Kreisen der Gesellschaft ein universales Wissen verschaffte, abwesend war.
    »Ach!« seufzte meine Tante, »ich wünschte, es wäre schon die Zeit, wo Eulalie kommt. Sie ist die einzige, die es mir wirklich wird sagen können.«
    Eulalie war eine hinkende und taube, aber sehr geschäftige Person, die sich nach dem Tod von Madame de la Bretonnerie, bei der sie von Kind auf in Stellung gewesen war, »zurückgezogen« hatte und ein Zimmer dicht neben der Kirche bewohnte, das sie häufig verließ, sei es um an den Offizien teilzunehmen oder außerhalb der Offizien rasch ein Gebet zu verrichten oder Théodore zur Hand zu gehen; die übrigen Stunden des Tages verwendete sie darauf, Kranke zu besuchen, zum Beispiel meine Tante Léonie, der sie alles erzählte, was sich während der Messe oder der Vesper zugetragen hatte. Sie verschmähte es nicht, die Rente, die ihre alte Herrschaft ihr ausgesetzt hatte, durch ein gelegentliches kleines Zubrot aufzubessern, und visitierte deshalb von Zeit zu Zeit die Wäsche des Pfarrers oder irgendeiner anderen bedeutenden Persönlichkeit aus den Kreisen der Geistlichkeit von Combray. Über einem Kragenmantel aus schwarzem Tuch trug sie eine kleine weiße Haube, die fast nonnenhaft wirkte; eine Hautkrankheit färbte einen Teil ihrer Wangen und ihrer gekrümmten Nase mit dem kräftigen rosa Ton der Balsaminen. Ihre Besuche bildeten eine große Zerstreuung für Tante Léonie, die außer ihr und dem Pfarrer eigentlich niemanden mehr empfing. Meine Tante hatte nach und nach alle anderen Besucher ausgeschaltet, weil sie in ihren Augen den Fehler besaßen, einer der beiden Kategorien von Leutenanzugehören, die sie verabscheute. Die einen, die schlimmeren und deren sie sich zuerst entledigt hatte, waren diejenigen, die ihr rieten, nicht so sehr auf sich selbst »achtzuhaben«, und die, sei es auch nur in negativer Form – etwa durch schweigende Mißbilligung oder durch ein zweifelndes Lächeln –, die umstürzlerische Meinung vertraten, daß ein kleiner Spaziergang in der Sonne oder ein schönes englisches Beefsteak (wo doch schon zwei armselige Schluck Vichywasser sie vierzehn Stunden lang im Magen drückten) ihr sehr viel besser tun würden als ihr Bett und ihre Medizin. Die andere Kategorie bestand aus Personen, die sie für weit ernstlicher krank zu halten schienen, als sie selber meinte, nämlich so krank, wie sie zu sein behauptete. Sie also, die sie nach einigem Zögern und eigentlich nur auf das inständige Zureden von Françoise hatte heraufkommen lassen und die dann im Verlauf ihres Besuchs sich der ihnen erwiesenen Gunst unwürdig gezeigt hatten, indem sie schüchtern etwas vorzubringen wagten wie: »Meinen Sie nicht, wenn Sie bei diesem schönen Wetter ein

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