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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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bei sich; ein Freund schlug ihm vor, ihn in seinem Coupé 1 nach Hause zu fahren, und da ihm Odette, indem sie ihn zu kommen gebeten, die Gewißheit gegeben hatte, daß sie niemand erwarte, hätte er sich lieber, als in diesem Regen loszufahren, gleich nach Hause begeben, um sich schlafen zu legen. Doch vielleicht würde sie, wenn sie sah, daß er gar nicht so großen Wert darauf zu legen schien, ausnahmslos bei ihr die letzten Stunden des Abends zu verbringen, auch nachlässiger darin werden, sie für ihn freizuhalten, und das am Ende gerade einmal, wenn er es besonders ersehnte.
    Er war erst nach elf Uhr bei ihr, und als er sich entschuldigte, daß er nicht eher habe kommen können, klagte sie, es sei in der Tat sehr spät, das Gewitter habe ihr zugesetzt, sie fühle sich benommen im Kopf, undbereitete ihn gleich darauf vor, daß sie ihn nicht länger als eine halbe Stunde dabehalten, sondern um Mitternacht nach Hause schicken werde; kurz darauf wurde sie müde und wollte gerne schlafen.
    »Also keine Cattleya heute abend?« fragte er. »Und ich hatte doch so auf eine kleine liebe Cattleya gehofft.«
    Etwas mißmutig und nervös antwortete sie ihm:
    »Aber nein, Liebling, keine Cattleya heute abend, du siehst doch, wie angegriffen ich bin!«
    »Vielleicht hätte es dir gut getan, aber ich will dich nicht quälen.«
    Sie bat ihn, bevor er ging, das Licht auszumachen, er selbst zog die Bettvorhänge zu und ging. 1 Doch zu Hause angekommen, überfiel ihn plötzlich der Gedanke, daß Odette vielleicht an diesem Abend noch jemand erwarte, daß sie ihn nur gebeten habe, das Licht auszulöschen, damit er glaube, sie wolle wirklich schlafen, und gleich nachdem er gegangen war, es wieder angemacht und jenen anderen eingelassen habe, dem die Nacht bei ihr zugedacht war. Er schaute auf die Uhr. Es war jetzt etwa anderthalb Stunden her, daß er sie verlassen hatte; nun ging er noch einmal aus dem Haus, nahm eine Droschke und ließ sie ganz in ihrer Nähe halten in einer kleinen Straße, die im rechten Winkel auf die hinter ihrem Haus entlangführende stieß, in der er manchmal an ihr Schlafzimmerfenster klopfte, damit sie ihm öffnen käme; er stieg aus dem Wagen, das ganze Viertel lag finster und öde da, er hatte nur ein paar Schritte zu machen und stand bereits fast vor ihrem Haus. In der Dunkelheit aller dieser Fenster, hinter denen seit langem das Licht gelöscht war, sah er in dieser Straße nur ein einziges, aus dem – zwischen den Fensterläden, die sein goldenes, geheimnisvolles Fruchtfleisch auszupressen schienen – vom Innern des Zimmers herjenes Licht hervorquoll, das ihn an so vielen Abenden, wenn er es schon von fernher bemerkte, erfreut und ihm angekündigt hatte: »Sie ist da und wartet auf dich«; jetzt aber quälte es ihn vielmehr, weil es ihm sagte: »Sie ist da mit dem, auf den sie gewartet hat.« Er wollte wissen, wer es war; er schlich an der Mauer entlang bis an das Fenster, doch durch die schrägen Latten der Läden sah er nichts; er hörte nur das Murmeln von Stimmen in der Stille der Nacht. Gewiß litt er beim Anblick dieses Lichts, in dessen Schimmer sich hinter dem Fensterrahmen das unsichtbare, verhaßte Paar bewegte, beim Anhören dieses Gemurmels, das die Gegenwart jenes anderen kundtat, der nach seinem Weggang gekommen war, beim Gedanken an die Falschheit Odettes und des Glücks, das sie jetzt mit einem anderen genoß.
    Und doch war er froh, daß er gekommen war: die Unruhe, die ihn gezwungen hatte, noch einmal auszugehen, hatte von ihrer Qual verloren, was sie an Gewißheit gewann, jetzt wo das andere Leben Odettes, das er in jenem Augenblick nur jäh und ohnmächtig geahnt hatte, auf einmal im vollen Lampenlicht vor ihm lag, arglos gefangen in diesem Raum, in den er überraschend treten und wo er es mit Händen greifen konnte; oder besser wäre es vielleicht, an die Läden zu klopfen, wie er öfter tat, wenn es sehr spät geworden war; so würde wenigstens Odette erfahren, daß er Bescheid wußte, daß er das Licht gesehen, die murmelnden Stimmen gehört, und während er sie sich eben noch vorgestellt hatte, wie sie sich über seine Illusionen lustig machten, sah er jetzt die beiden vor sich, blind in Irrtum befangen, alles in allem getäuscht durch ihn, den sie ferne glaubten und der nun schon wußte, er werde gleich an die Läden klopfen. Vielleicht war das, was er in diesem Augenblick als beinahe angenehm empfand, nicht nur die Beschwichtigung eines Zweifels oder einesSchmerzgefühls,

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