Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
der Swann ihn nahm, um ihn mit vier anderen an Odette zu schicken) und ob man nicht auf Odette, seitdem er sie kannte (denn nicht einen Augenblick argwöhnte er, daß sie jemals zuvor von einem anderen als ihm Geld angenommen habe) jene Bezeichnung anwenden könne, die er für ganz unvereinbar mit ihr angesehen hatte, nämlich »ausgehaltene Person«. Er hing dem Gedanken nicht weiter nach, denn eine gewisse angeborene, immer wiederkehrende und der Vorsehung in die Hände arbeitende Trägheit des Geistes trat in diesemAugenblick bei ihm in Aktion und löschte seinen ganzen Scharfsinn mit solcher Plötzlichkeit aus, wie man später, als es überall elektrische Beleuchtung gab, im ganzen Haus den Strom ausschalten konnte. Sein Denken tastete einen Augenblick noch in dieser Finsternis umher, er nahm seinen Kneifer ab und putzte die Gläser, strich sich mit der Hand über die Augen und sah erst wieder Licht, als er sich einer ganz neuen Vorstellung gegenüberfand, nämlich der Frage, ob er nicht versuchen solle, Odette im nächsten Monat sechs- oder siebentausend Francs zu schicken wegen der Überraschung und Freude, die eine solche Sendung bei ihr auslösen würde.
Wenn er am Abend nicht bis zu dem Augenblick, wo es Zeit wurde, Odette bei den Verdurins oder in einem der sommerlichen Restaurants zu treffen, die sie gern im Bois oder noch lieber in Saint-Cloud aufsuchten, zu Hause blieb, begab er sich zum Abendessen in eines jener eleganten Häuser, in denen er früher so viel verkehrt hatte. Er wollte nicht ganz mit Menschen den Kontakt verlieren, die – wer konnte es wissen – vielleicht Odette eines Tages nützlich werden könnten und dank denen er ihr schon heute oft gefällig zu sein vermochte. Zudem hatte ihm die lange Gewöhnung an die mondäne Gesellschaft und den Luxus gleichzeitig mit ihrer Verachtung doch auch das Bedürfnis danach eingeflößt, so daß in dem Augenblick, wo die bescheidensten Behausungen ihm genauso gut erschienen waren wie die fürstlichsten Besitzungen, seine Sinne doch derartig an diese letzteren gewöhnt waren, daß er sich nur ungern in den ersteren aufgehalten hätte. Er brachte – sogar in einem Maße, das diese sich gar nicht hätten vorstellen können – nicht minder Achtung auf für irgendwelche Kleinbürger, die im fünften Stock Aufgang D linker Flur eine kleine Tanzgesellschaft gaben, als für die Prinzessin vonParma, die in Paris die elegantesten Feste veranstaltete; er hatte jedoch nicht das Gefühl, auf einem Ball zu sein, wenn er sich mit den Vätern im Schlafzimmer der Dame des Hauses aufhielt, und der Anblick der mit Handtüchern zugedeckten Waschgeschirre und der als Kleiderablagen hergerichteten Betten, auf deren Decken sich Überzieher und Hüte häuften, verursachte ihm das gleiche Erstickungsgefühl, das heute Menschen, die seit zwanzig Jahren an elektrisches Licht gewöhnt sind, bei einer qualmenden Lampe oder einem schwelenden Nachtlicht verspüren. An den Tagen, wo er nicht zu Hause aß, ließ er um halb acht anspannen; beim Ankleiden dachte er an Odette und fühlte sich somit nicht allein, denn das unaufhörliche Denken an sie gab den Augenblicken, die er fern von ihr verbrachte, den gleichen Reiz, wie die ihn besaßen, wo er mit ihr zusammen war. Er stieg in den Wagen, aber er spürte, daß dieser Gedanke mit ihm eingestiegen war und sich auf seinen Knien niederließ wie ein Lieblingstier, das man überallhin mitnimmt und das er sogar unbemerkt von den Gästen bei Tisch bei sich behalten würde. Er hegte und pflegte ihn und überließ sich dabei aufgrund eines vagen Gefühls der Mattigkeit einem leichten Zittern, das seinen Hals und seine Nase erbeben ließ und ganz neu an ihm war, während er das Sträußchen Akelei in seinem Knopfloch befestigte. Da er sich seit einiger Zeit schon leidend und traurig fühlte, besonders seit dem Tag, an dem Odette den Verdurins jenen Forcheville vorgestellt hatte, hätte Swann sich gern ein paar Tage auf dem Lande ausgeruht. Doch er fand nicht den Mut, Paris einen einzigen Tag zu verlassen, wenn Odette da war. Es war jetzt warm, die schönsten Tage des Frühlings hatten eingesetzt. Er mochte aber noch so sehr durch eine Stadt aus Stein fahren, um ein ringsum geschlossenes Stadtpalais aufzusuchen: was er unaufhörlich vor Augen sah,war ein Park, den er nahe bei Combray besaß, wo man schon um vier Uhr nachmittags etwas unterhalb des Spargelfeldes dank dem von den Feldern von Méséglise herwehenden Wind unter einer
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