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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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vielleicht noch vor dem Abendessen ein Briefchen von ihr bekommen, oder womöglich machte sie sich sogar noch rasch selbst zu ihm auf, um ihm mit einem zusätzlichen Besuch ihren Dank auszudrücken. Wie früher, als er an Odettes Natur Experimente mit Reaktionen der Verstimmung anstellte, suchte er durch solche der Dankbarkeit in ihr Gefühlsparzellen freizulegen, die sie ihm bislang noch nicht offenbart hatte.
    Oft war sie in Geldverlegenheit und bat ihn dann, wenn ein Gläubiger drängte, ihr schnell zu Hilfe zu kommen. Er war darüber glücklich wie über alles, was Odette eine gewichtige Vorstellung von seiner Liebe oder auch nur von seinem Einfluß, seiner Nützlichkeit für sie geben konnte. Sicher, hätte man ihm zu Anfang gesagt: »Deine Stellung gefällt ihr« oder jetzt: »Sie liebt dich deines Geldes wegen«, er hätte es nicht geglaubt, wäre aber nicht einmal sehr unzufrieden gewesen, daß andere sich vorstellten, sie sei mit ihm – daß andere spürten, sie seien miteinander – durch etwas so Starkes wie Snobismus oder Geld verbunden. Doch selbst wenn er gedacht hätte, es sei so, hätte er vielleicht nicht unter der Entdeckung gelitten, daß Odettes Liebe zu ihm auf einer solideren Basis beruhe als auf der Annehmlichkeit desUmgangs mit ihm oder der Vorzüge, die sie an ihm finden mochte: der Eigennutz, gerade der Eigennutz würde vielleicht am ehesten dafür sorgen, daß niemals der Tag käme, an dem sie versucht sein könnte, den Verkehr mit ihm abzubrechen. Im Augenblick konnte er sich, wenn er sie mit Geschenken überschüttete, ihr Gefälligkeiten erwies, aufgrund von Vorzügen, die außerhalb seiner Person lagen, nichts mit seiner Intelligenz zu tun hatten, von dem erschöpfenden Bemühen erholen, ihr durch sich selbst zu gefallen. Und jenes Lustgefühl, verliebt zu sein, nur von Liebe zu leben, ein Gefühl, an dessen Wirklichkeit er manchmal zweifelte, wurde durch den Preis, den er als Liebhaber immaterieller Empfindungen schließlich dafür bezahlte, für ihn um so wertvoller – so wie Leute, die im Grunde nicht ganz sicher sind, ob das Schauspiel des Meeres und das Geräusch der Brandung denn eigentlich so köstlich seien, sich von der erlesenen Qualität ihrer rein ideellen Freuden dadurch überzeugen, daß sie für hundert Francs am Tag ein Hotelzimmer mieten, das ihnen erlaubt, in diesen Genuß zu kommen.
    Eines Tages, als Überlegungen dieser Art ihm ein weiteres Mal jene Zeiten in Erinnerung riefen, in denen man ihm von Odette als einer ausgehaltenen Person erzählt hatte, und als er sich gerade von neuem darin gefiel, jenen seltsamen Typus der ausgehaltenen Frau – ein schillerndes Amalgam aus unbekannten, dämonischen Elementen, wie eine Gestalt aus den Bildern von Gustave Moreau 1 mit giftigen Blüten geschmückt, unter die kostbare Kleinodien geflochten waren – jener Odette gegenüberzustellen, über deren Gesicht er das gleiche Mitgefühl für einen Unglücklichen, die gleiche Art von Empörung über eine Ungerechtigkeit oder von Dankbarkeit für eine empfangene Wohltat wie früher über das seiner Mutter, seiner Freunde hatte hingleitensehen, jener Odette, deren Bemerkungen sich oft auf die Dinge bezogen, die er am besten kannte, seine Sammlungen, sein Schlafzimmer, seinen alten Diener, den Bankier, der seine Papiere verwaltete –, erinnerte ihn gerade diese letztere Vorstellung von dem Bankier daran, daß er eigentlich hätte Geld abheben sollen. Denn wenn er in diesem Monat Odette in ihren materiellen Schwierigkeiten weniger großzügig beistände als im letzten, wo er ihr fünftausend Francs gegeben hatte, wenn er ihr nicht ein Diamantenkollier schenkte, das sie sich wünschte, würde er möglicherweise bei ihr auch nicht die Bewunderung für seine Freigebigkeit erneuern und jene Dankbarkeit, die ihn so glücklich machte, und liefe damit Gefahr, in ihr den Glauben zu erwecken, daß seine Liebe zu ihr, da ihre Bestätigung nachließ, nicht mehr ganz dieselbe sei. Da auf einmal fragte er sich, ob nicht gerade darin das »Aushalten« bestehe (als ob nämlich dieser Begriff des Aushaltens sich nicht aus geheimnisvollen und perversen Elementen herleite sondern vielmehr dem ganz alltäglichen privaten Bereich seines Lebens angehöre, so wie jener im Haus verwahrte und vertraute, zerrissene und wieder geklebte Tausendfrancsschein, den sein Kammerdiener, nachdem er für ihn die Rechnungen des Monats und die Miete bezahlt hatte, in die Lade des alten Schreibtisches gelegt hatte, aus

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