Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
bißchen vor die Tür gingen …« oder im Gegenteil auf ihre eigene Bemerkung: »Ich bin recht schwach, recht schwach, es geht zu Ende, meine Lieben«, ihr geantwortet hatten: »Ach ja! Wenn man die Gesundheit nicht mehr hat! Aber Sie können es doch immer noch ein paar Jährchen machen«, sie alle, die einen wie die anderen, konnten sicher sein, nicht mehr empfangen zu werden. Amüsierte sich Françoise schon über das Entsetzen, das meine Tante befiel, wenn sie von ihrem Bett aus in der Rue du Saint-Esprit eine dieser Personen in der offenkundigen Absicht, sie zu besuchen, näherkommen sah, oder wenn sie hörte, daß die Schelle ging, so lachte sie noch mehr und wie über einen gelungenen Streich über die stets erfolgreichen Listen, mit denen meine Tante diese Besucher abweisen ließ, und die verdutzteMiene, mit der sie sich entfernten, ohne sie gesehen zu haben; im Grunde bewunderte sie dann ihre Herrin, die sie allen diesen Leuten überlegen glaubte durch die einfache Tatsache, daß sie sie nicht sehen wollte. Kurz, meine Tante verlangte gleichzeitig, daß man ihre Lebensweise guthieß, daß man sie um ihrer Leiden willen beklagte und sie dennoch völlig beruhigt in die Zukunft blicken ließ.
Darin besaß Eulalie eine gewisse Meisterschaft. Meine Tante konnte ihr zwanzigmal in einer Minute sagen: »Es geht mit mir zu Ende, meine gute Eulalie«, so gab Eulalie zwanzigmal zurück: »Wo Sie Ihre Krankheit doch so gut kennen, Madame Octave, können Sie hundert Jahre alt werden damit; auch Madame Sazerin hat es gerade gestern noch gesagt.« (Eine der festesten Überzeugungen Eulalies, die auch eine noch so große Zahl von Widerlegungen durch die Erfahrung nicht hatte erschüttern können, war, daß Madame Sazerat Madame Sazerin hieß.)
»Ich verlange gar nicht, hundert Jahre alt zu werden«, antwortete meine Tante, die es vorzog, das Ende ihrer Tage nicht so genau festzulegen.
Da Eulalie es außerdem wie niemand sonst verstand, meine Tante zu unterhalten, ohne sie zu ermüden, waren ihre Besuche, die regelmäßig – sofern nichts Unerwartetes dazwischenkam – alle Sonntage stattfanden, ein Vergnügen für sie, und die Aussicht darauf erhielt sie zunächst in einem angenehmen Zustand, der aber bald etwas Quälendes bekam wie übermäßiger Hunger, sobald Eulalie sich etwas verspätete. Wenn das lustvolle Gefühl, auf Eulalie zu warten, sich allzulange ausdehnte, wurde es zur Marter; meine Tante sah dann unaufhörlich auf die Uhr, gähnte und bekam Anwandlungen von Schwäche. Eulalies Schellen, wenn es spät am Nachmittag dennoch eintrat, nachdem meine Tantees schon nicht mehr erwartet hatte, verursachte ihr fast Übelkeit. Tatsächlich dachte sie sonntags ausschließlich an diesen Besuch, und gleich nach dem Mittagessen trieb Françoise uns an, das Eßzimmer zu verlassen, damit sie hinaufgehen und meine Tante »beschäftigen« könne. Doch es war schon eine ganze Weile her (besonders von dem Zeitpunkt an, da in Combray die schönen Sommertage anbrachen), daß die stolze Mittagsstunde vom Turm von Saint-Hilaire herab, dem sie mit den zwölf für einen Augenblick erblühenden Blumenzacken ihrer tönenden Krone gleichsam ein Wappen verlieh, über unserem Tisch verklungen war, über dem geweihten Brot, das ebenfalls ganz ungezwungen von der Kirche her gekommen war, und wir saßen doch immer noch vor den Tellern mit den Bildern aus Tausendundeiner Nacht , von der Hitze und besonders von dem guten Mahl beschwert. Denn zu der ständigen Grundlage von Eiern, Koteletts, Kartoffeln, Eingemachtem, Biskuits, die sie uns gar nicht mehr ankündigte, fügte Françoise – je nach dem Stand der Felder und Obstgärten, dem Ertrag der Fischerei und den Zufällen des Handelslebens, dem Entgegenkommen der Nachbarn und ihren eigenen Eingebungen und zwar so glücklich, daß unser Speisezettel, wie die Vierpässe, die man im dreizehnten Jahrhundert an den Kirchenportalen anbrachte, immer einigermaßen dem Rhythmus der Jahreszeiten und den Episoden des Lebens entsprach 1 – jeweils etwas hinzu: eine Rautenscholle, weil die Händlerin ihr garantiert hatte, daß sie ganz frisch sei, einen Truthahn, weil sie einen schönen auf dem Markt von Roussainville-le-Pin gesehen hatte, Kardonen mit Mark, weil sie sie uns noch nicht auf diese Art zubereitet hatte, eine Hammelkeule, weil der Aufenthalt an der frischen Luft tüchtig hungrig macht und weil man bis sieben Uhr gut schon wieder einen leeren Magen haben konnte, Spinat zurAbwechslung,
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