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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Aprikosen, weil es noch kaum welche gab, Johannisbeeren, weil sie in vierzehn Tagen zu Ende sein würden, Himbeeren, die Monsieur Swann eigens für uns gebracht hatte, Kirschen, weil sie die ersten waren, die der Kirschbaum im Garten nach einer Pause von zwei Jahren wieder trug, Rahmkäse, den ich doch früher immer so gern gegessen hatte, einen Mandelkuchen, weil sie ihn am Abend zuvor bestellt, und eine Brioche, weil wir an der Reihe waren, sie zu spendieren. Und nach alledem wurde uns auch noch, eigens für uns hergestellt, aber noch spezieller meinem Vater zugedacht, der sie besonders liebte, der Inspiration von Françoise entsprungen, von ihr als persönliche Aufmerksamkeit dargebracht, eine Schokoladencreme gereicht, flüchtig und leicht wie eine Gelegenheitsdichtung, auf die sie aber gleichwohl ihr gesamtes Können verwendet hatte. Wer mit den Worten »Ich bin fertig, ich habe keinen Hunger mehr« davon nicht gekostet hätte, wäre auf der Stelle in die Reihen jener Rohlinge hinabgesunken, die bei dem Geschenk, das ein Künstler ihnen macht, auf das Gewicht und das Material schauen, während doch das Entscheidende nur der Geist und die Signatur sind. Auch nur das Geringste davon auf dem Teller zu lassen wäre nicht minder unhöflich gewesen, wie wenn man sich vor der Beendigung eines Stücks unter den Augen des Komponisten erhebt.
    Endlich sagte dann meine Mutter: »Lauf, bleib nicht ewig hier sitzen, geh in dein Zimmer hinauf, wenn es dir draußen zu heiß ist, aber erst geh einen Augenblick an die Luft, damit du nicht gleich nach Tisch mit Lesen beginnst.« Ich setzte mich dann – neben dem Brunnen, dessen Becken oft wie ein gotischer Taufstein mit einem Salamander verziert war, der mit seinem allegorischen, spindelförmigen Körper auf dem grob bearbeiteten Stein ein bewegliches Relief bildete – auf die Bank ohneLehne unter einem Fliederstrauch in jenem Gartenwinkel, von dem aus man durch einen Bedientenausgang auf die Rue du Saint-Esprit treten konnte und über dessen wenig gepflegtem Boden sich zwei Stufen erhoben, die in einen hinter der Küche vorspringenden und wie ein selbständiges Gebäude wirkenden Küchenanbau führten. Man sah von draußen schon die roten, wie Porphyr glänzenden Bodenplatten. Er sah weniger wie das Refugium von Françoise als vielmehr wie ein kleiner Venustempel aus. Er quoll über von den Opfergaben des Milchmanns, des Obsthändlers und der Gemüsefrau, die manchmal aus weit entlegenen Weilern herbeigekommen waren, um Françoise die Erstlinge ihrer Felder darzubringen. Und sein Dach war immer von einer gurrenden Taube gekrönt. 1
    In früheren Zeiten hatte ich mich nicht lange in dem diese Stätte umgebenden heiligen Hain aufgehalten, denn bevor ich in mein Zimmer ging, um zu lesen, trat ich einen Augenblick in das kleine Ruhegemach ein, das mein Onkel Adolphe, ein Bruder meines Großvaters und alter Militär, als pensionierter Major im Erdgeschoß bewohnte und das, selbst wenn die offenen Fenster zwar nicht die selten bis dahin dringenden Sonnenstrahlen, so doch die Hitze eindringen ließen, unablässig jenen dunklen, frischen Geruch gleichzeitig nach Wald und nach Ancien régime verströmte, der die Nasenflügel lange träumen läßt, wenn man in gewisse verlassene Jagdpavillons eindringt. Doch seit vielen Jahren schon trat ich nicht mehr in Onkel Adolphes Zimmer, denn dieser kam nicht mehr nach Combray wegen eines Zerwürfnisses zwischen ihm und meiner Familie, an dem ich selbst, und zwar durch folgende Umstände, schuld war 2 :
    Ein- oder zweimal monatlich wurde ich in Paris zu ihm geschickt, ich traf ihn dann an, wie er in einereinfachen Hausjoppe sein Mittagessen beendete, das ihm sein Diener in einer Arbeitsjacke aus weiß und violett gestreiftem Drillich auftrug. Brummend beklagte er sich dann jedesmal, daß ich nicht schon eher gekommen sei, man kümmere sich überhaupt nicht um ihn; er bot mir ein Stück Marzipan oder eine Mandarine an, dann gingen wir durch einen Salon, in dem er sich nie aufhielt und der niemals geheizt war; die Wände dieses Zimmers waren mit vergoldetem Stuck verziert, die Decken in einem Blau gemalt, das den Himmel nachahmen sollte, und die Möbel mit gestepptem Seidenstoff gepolstert wie bei meinen Großeltern, aber gelb; dann gingen wir in den Raum, den er »Arbeitszimmer« nannte: hier hingen an den Wänden Gravüren, die auf schwarzem Hintergrund eine füllige rosige Göttin darstellten, die einen Wagen lenkte, auf einer Erdkugel schwebte

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